Gustav Radbruch: Modernisierer des deutschen Rechtssystems
Eine juristische Karriere ist für einen Sozialdemokraten im Kaiserreich eher ungewöhnlich. Gustav Radbruch absolviert sie dennoch und wird 1921 erster sozialdemokratischer Reichsjustizminister. In die Rechtsgeschichte geht er jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg ein.
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Jurist Gustav Radbruch: Das Recht hat der Gerechtigkeit zu dienen-
In den Märztagen des Jahres 1920 endet beinahe eine beispiellose juristische Karriere — noch bevor sie so richtig begonnen hat. Am 13. März putschen in Kiel Reichswehreinheiten, an deren Spitze völkisch-nationale Militärs und Politiker stehen. Bevor es allerdings zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Putschisten und bewaffneten, kampferprobten republikanisch gesinnten Arbeiter*innen kommt, versuchen zwei sozialdemokratische Kieler Hochschullehrer, Hermann Heller und Gustav Radbruch, zwischen den Fronten zu vermitteln.
Beide werden in „Schutzhaft“ genommen und fünf Tage später nach der Niederschlagung des „Kapp-Lüttwitz-Putsches“ wieder freigelassen. Erst später erfahren sie, dass sie auf der Todesliste der Putschisten gestanden hatten. Da sich viele Putschisten in den Händen der Arbeiter*innen befinden, beginnt Gustav Radbruch eine weitere Vermittlungsaktion und erwirkt die Freilassung der Aufrührer. Sein Verhalten während der Putschtage verschafft ihm so großen Respekt bei den Arbeiter*innen, dass er das Angebot erhält, auf der Reichsliste der SPD für den Reichstag zu kandidieren.
Sympathie für die SPD aufgrund der Herkunft
Ein sozialdemokratischer Jura-Professor ist selbst 1920 noch eine Ausnahme, denn im Wilhelminischen Kaiserreich war es nicht karriereförderlich, der SPD anzugehören. Der Partei ist Gustav Radbruch daher erst nach der November-Revolution von 1918 beigetreten. Seine Sympathie für die Sozialdemokratie gründet sich auf seine Lübecker Herkunft. Das Elternhaus ist antimonarchistisch orientiert. Radbruch selbst lässt sich von der Überzeugung leiten: „Mein soziales Grundgefühl war immer dies, es nicht besser haben zu wollen als andere.“
Nach seinem Abitur in Lübeck, das er als Jahrgangsbester abschließt, studiert Gustav Radbruch Rechtswissenschaften und beginnt im Anschluss daran ein Referendariat, das er jedoch nicht beendet. Ihn zieht es in die Rechtswissenschaft. 1902 wird er promoviert und zwei Jahre später habilitiert. 1910 erhält er an der Universität Heidelberg eine außerordentliche Professur für Strafrecht, Prozessrecht und Rechtsphilosophie. Im Gepäck hat er ein Buch, das zum Standardwerk republikanisch gesinnter Juristen werden soll: „Einführung in die Rechtswissenschaft“. Radbruch stellt darin das „monarchische Prinzip“, das die Fürsten über die Verfassung stellt, weitsichtig als „eine gefährliche Waffe der Reaktion“ dar.
Kämpfer für die Rechte von Frauen
1920 zieht Gustav Radbruch als einziger sozialdemokratischer Jurist in den Reichstag ein und profiliert sich mit fortschrittlichen Gesetzesinitiativen: Gemeinsam mit 54 weiteren sozialdemokratischen Abgeordneten bringt er im Reichstag einen letztlich erfolglosen Antrag ein, der die Straflosigkeit der Abtreibung vorsieht, sofern diese in den ersten drei Monaten von einem approbierten Arzt vorgenommen wird.
Am 26. Oktober 1921 wird Gustav Radbruch als erster Sozialdemokrat zum Reichsjustizminister ernannt. Es beginnt ein Jahr des juristischen Umbruchs, das einzigartig in der deutschen Justizgeschichte ist. Radbruch erwirkt ein Gesetz, das die Zulassung von Frauen zu allen juristischen Berufen regelt. 1922 legt er den Entwurf eines „Allgemeinen Strafrechts“ und im Jahr darauf das „Jugendgerichtsgesetz“ vor.
Dabei zeichnet sich Radbruch als Verfechter eines einheitlichen Strafsystems, das sich auf die Idee der Resozialisierung gründet, aus. Nach der Ermordung Walter Rathenaus am 24. Juni 1922 bringt Gustav Radbruch das „Republikschutzgesetz“ auf den Weg. Obwohl er ein strikter Gegner der Todesstrafe ist, sieht er sich als Reichsjustizminister gelegentlich gezwungen, aus Gründen des Staatsschutzes zur Todesstrafe zu greifen.
Das Recht hat der Gerechtigkeit zu dienen
Viele der Radbruch’schen Gesetzesvorhaben werden in der ersten deutschen Republik nur ansatzweise umgesetzt und scheitern zum Teil am reaktionären Corpsgeist der meisten Juristen. Erst in der zweiten demokratischen Republik auf deutschem Boden werden sie zum Teil gesetzeswirksam. 1924 zieht sich Gustav Radbruch aus dem Reichstag zurück, weil er wieder wissenschaftlich arbeiten will. 1926 wird er als ordentlicher Professor auf den Lehrstuhl in Heidelberg berufen, den er schon 1910 „außerordentlich“ besetzt hatte. Radbruch beschäftigt sich fortan mit rechtsphilosophischen Fragen und betrachtet die Rechtswissenschaft als wertbezogene Kulturwissenschaft. Das Recht hat für Radbruch der Gerechtigkeit zu dienen. Eine Naturgesetzlichkeit des Verbrechens lehnt er ab.
Nach der Machtübertragung an die Nazis 1933 wird Gustav Radbruch, der konsequente Republikaner und Verfechter des Rechtsstaates, als erster deutscher Professor allein aus politischen Gründen aus dem Staatsdienst entfernt. Publizieren darf er jedoch weiterhin zu Themen des Rechtsvergleichs und der Rechtsgeschichte. In einem auf französisch geschriebenen Aufsatz erklärt Radbruch 1934: „Keine Staatsform kann sich endgültig von ihrer demokratischen Grundlage lösen. Die Mehrheit von heute kann nicht eine Diktatur begründen, die für alle Majoritäten von morgen und übermorgen unzerstörbar wäre.“
Grundlage für die Beurteilung von Nazi-Verbrechen
Unmittelbar nach der Zerschlagung Nazi-Deutschlands wird Gustav Radbruch auf seinen Lehrstuhl in Heidelberg zurückberufen. Gesellschaftspolitisch hält er sich weitgehend zurück, rechtspolitisch dagegen nicht. 1946 veröffentlicht Radbruch den Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“, dessen Kern als „Radbruch’sche Formel“ in die Rechtsgeschichte eingegangen ist: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ›unrichtiges Recht‹ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“ Das schafft die Grundlage für die Beurteilung von Nazi-Verbrechen und nach dem Mauerfall auch für DDR-Staatsverbrechen.
Ein Jahr vor seinem Tod am 23. November 1949 kehrt Gustav Radbruch zur SPD zurück und erklärt, „dass in dieser Zeit der Entscheidungen mit jenem Nihilismus, der gleichzeitig alle Besatzungsmächte und Parteien ablehne, Schluss gemacht werden müsse, dass man zeigen müsse, wo man steht“. Radbruchs Credo hat gerade heute nichts von seiner Aktualität verloren: „Demokratie ist gewiss ein preisenswertes Gut, Rechtsstaat aber ist wie das tägliche Brot, wie Wasser zum Trinken und wie Luft zum Atmen, und das Beste an der Demokratie gerade dieses, dass nur sie geeignet ist, den Rechtsstaat zu sichern.“