Der Weg zum Grundgesetz: Welchen Einfluss die SPD hatte
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Vor 75 Jahren begann der Parlamentarische Rat mit der Ausarbeitung eines Grundgesetzes, das dem westdeutschen Teilstaat bis zur Wiedervereinigung eine vorübergehende Verfassung geben sollte, das Grundgesetz. Kurz bevor der Rat am 1. September 1948 in Bonn seine Arbeit aufnahm, fand auf einer Insel im oberbayerischen Chiemsee ein Treffen ausgewählter Experten statt. Die ausschließlich männliche Runde von Beamten, Politikern und Verfassungsrechtlern entwickelte dort Empfehlungen für das vom Parlamentarischen Rat auszuarbeitende Grundgesetz. Eine wichtige Rolle beim Konvent von Herrenchiemsee spielte ein ehemaliger Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus: der hessische SPD-Delegierte Hermann Brill.
Otto Suhr erhielt kein Stimmrecht
Im Juli 1948 hatten die westlichen Alliierten den Ministerpräsidenten der Länder ihrer Besatzungszone einen Katalog von Verfassungsbedingungen übergeben, die sogenannten Frankfurter Dokumente. Darin festgelegt waren unabdingbare Voraussetzungen für die Schaffung eines westdeutschen Staates. Nach langen Debatten und einigem Zureden der Alliierten stimmten die Ministerpräsidenten der Errichtung einer vorläufigen Verfassung zu und einigten sich auf Betreiben Bayerns auf eine erste Beratungsrunde von Experten, die Empfehlungen für ein Grundgesetz ausarbeiten sollten.
Jedes der elf Länder, aus denen 1949 die Bundesrepublik entstand, durfte ein stimmberechtigtes Mitglied in den Konvent entsenden. Zu dieser Runde zählten vier Delegierte, die der SPD angehörten oder ihr nahestanden: Wilhelm Drexelius (Hamburg), Fritz Baade (Schleswig-Holstein), Carlo Schmid (Württemberg-Hohenzollern) und Hermann Brill (Hessen). Als Ehrengast eingeladen war außerdem der Berliner SPD-Politiker Otto Suhr, der aber aufgrund des ungeklärten Status der ehemaligen Reichshauptstadt kein Stimmrecht erhielt. Ende Juni 1948 hatte die Berlin-Blockade begonnen; die Teilung der Stadt und die zunehmenden Spannungen des Kalten Krieges wirkten sich auf alle Ebenen der Verfassungsgebung aus.
Die bayerische Delegation reiste mit Verfassungsentwurf an
Neben Anton Pfeiffer, dem bayerischen Vorsitzenden des Verfassungskonvents, nahmen die SPD-Delegierten Carlo Schmid und Hermann Brill den größten Einfluss auf den Verlauf der Beratungen. Trotz einiger Differenzen unter den sozialdemokratischen Delegierten arbeiteten beide konstruktiv an den Beratungen in Herrenchiemsee mit. Während in der SPD noch unterschiedliche Vorstellungen über die auszugestaltende Verfassung herrschten, war die CSU-dominierte bayerische Delegation bereits mit einem vollständig ausgearbeiteten Verfassungsentwurf angereist. Ihr Ziel war es, eine föderalistische Verfassung mit möglichst wenig Zentralgewalt durchzusetzen.
In der SPD stritt man noch um einige sehr grundsätzliche Fragen. Der Parteivorstand um Kurt Schumacher und seinen verfassungsrechtlichen Berater Walter Menzel war sich einig, dass die Verfassung provisorischen Charakter haben und inhaltlich auf ein Minimum beschränkt sein sollte. Zentral war für sie eine Wirtschaftsverfassung, mit der eine Sozialisierung der Industrie ermöglicht werden sollte – ein zentraler Bestandteil von Schumachers Plan für ein wiedervereinigtes Deutschland. Die provisorische Verfassung sollte vor allem seine „Magnettheorie“ untermauern, wonach ein rasantes Wirtschaftswachstum in den Westzonen über kurz oder lang zu einer Wiedervereinigung führen würde.
Die hessische Delegation, vertreten durch Hermann Brill, plädierte zwar auch für eine provisorische Verfassung, diese sollte aber, angelehnt an das Vorbild der hessischen Landesverfassung, bereits eine vollumfängliche sein und weit über wirtschaftliche Grundsatzfragen hinausgehen. Die Konflikte mit der „Hannover-Clique“ um Schumacher hat Brill in seinem Tagebuch über den Konvent festgehalten.
Hermann Louis Brill mit herausragenden Referenzen
Kaum ein anderer Delegierter in Herrenchiemsee verfügte über so herausragende demokratische Referenzen wie Hermann Louis Brill. Der studierte Lehrer und Bildungspolitiker kam aus der traditionell starken Thüringer Sozialdemokratie. Von 1920 bis 1933 hatte er der SPD-Fraktion des Thüringer Landtags angehört. Als Wilhelm Frick, der reichsweit erste NSDAP-Landesminister, Anfang der 1930er Jahre versuchte, dem Österreicher Adolf Hitler zur deutschen Staatsbürgerschaft zu verhelfen, war Hermann Brill Präsident des zuständigen Untersuchungsausschusses und zuständig für die Befragung Hitlers. In seinen Memoiren Gegen den Strom ist nachzulesen, wie sehr ihn diese direkte Konfrontation mit Adolf Hitler zu weiteren Widerstandsaktivitäten ermutigte.
Brill, der die SPD im Mai 1933 wegen deren Passivität im Umgang mit der NSDAP verlassen hatte, zählte zunächst zu den führenden Mitgliedern der Widerstandsgruppe „Neu Beginnen“ und gründete 1934 gemeinsam mit Otto Brass die „Deutsche Volksfront“. Im Jahr 1938 wurde er verhaftet und wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ angeklagt. Der Volksgerichtshof verurteilte ihn zu zwölf Jahren Haft, von denen er die letzten beiden Jahre im Konzentrationslager Buchenwald verbrachte. Kurz vor der Befreiung des Lagers im April 1945 war Brill als Leiter des „Volksfrontkomitees Buchenwald“ maßgeblich an der Abfassung des „Buchenwalder Manifests für Frieden, Freiheit, Sozialismus“ beteiligt. Das Manifest forderte die Zerschlagung des Faschismus, den Aufbau einer „Volksrepublik“ und die Sozialisierung der Wirtschaft nach dem Vorbild der „Volksausschüsse“. Im Mai 1945 gründete Brill den „Bund demokratischer Sozialisten“ und setzte seine Hoffnungen in eine vereinte Arbeiterbewegung.
Für wenige Wochen amtierte Brill als Regierungspräsident im zunächst amerikanisch besetzten Thüringen, aber schon ab Juli 1945 musste er unter sowjetischer Besatzung leben und arbeiten. Wegen seiner Weigerung, sich der KPD und der sowjetischen Militäradministration zu unterstellen, wurde er im September 1945 von den Sowjets verhaftet und verhört. In dieser Situation der Handlungsunfähigkeit entschloss er sich Ende des Jahres zur Übersiedlung nach Hessen, wo er Mitte 1946 zum Chef der Staatskanzlei ernannt wurde. Zu seinen zentralen Anliegen in dieser Zeit zählte eine Reform des autoritär geprägten öffentlichen Dienstes nach demokratischen Grundsätzen.
Keine unüberbrückbaren Gräben zwischen den Delegierten
Zurück nach Herrenchiemsee: Mehrere Streitpunkte dominierten den zweiwöchigen Konvent im August des Jahres 1948. Der erste Punkt betraf die Frage des Föderalismus. Dessen radikale Fürsprecher vertraten die Auffassung, dass das Deutsche Reich nicht mehr existiere und die Staatsgewalt daher von den Ländern ausgehen müsse. Uneinigkeit herrschte darüber, ob und in welcher Form es ein gesetzgebendes Gremium auf der Ebene oberhalb der Länder geben sollte. Die CDU-Delegierten plädierten für einen Bundesrat, der sich aus Mitgliedern der Landesregierungen zusammensetzen sollte. Die in der Minderheit befindlichen SPD-Vertreter plädierten für einen Senat, der eine demokratische Wahl der Mitglieder des Bundesrates gewährleisten und das Modell der Gesandtenversammlung aus dem 19. Jahrhundert ad acta legen sollte.
Trotz aller Meinungsverschiedenheiten taten sich beim Konvent von Herrenchiemsee keine unüberbrückbaren Gräben zwischen den Delegierten auf – ein bedeutender Unterschied zu früheren Verfassungsdiskussionen. Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik hatte der Streit um den Föderalismus und die Zentralgewalt den Staat fast zerrissen. Nach dem Ende des NS-Regimes und des Krieges herrschte nun aber eine hohe Kompromissbereitschaft, die den Beratungen des Konvents zum Erfolg verhalf.
Eine bemerkenswerte Einigkeit herrschte etwa über die Einrichtung eines für die Wahrung der Verfassung zuständigen Obersten Gerichtshofs. Auch in dieser Frage nahm Hermann Brill entscheidenden Einfluss. „Für uns steht die Idee der menschlichen Freiheit allen anderen Staatszwecken voran und bei uns ist es nicht eine leere Deklamation, sondern ein Gebot praktischer Politik, diesen Weg zu gehen“, erklärte er in seiner Eröffnungsrede vor dem Konvent. Er forderte die Formulierung von Grundrechten, die für alle staatlichen Ebenen rechtsverbindlich sein sollten. An der Spitze des neuen Verfassungssystems sollte ein Oberster Gerichtshof stehen, der die Grundrechte aufrechterhalten und als echter „Hüter der Verfassung“ fungieren sollte.
„Verfassungsfeinde kann die Verfassung nicht integrieren.“
Das war eine radikale Abkehr von der Verfassungspolitik der Weimarer Zeit – nicht zuletzt im Fall der SPD, die sich vor 1933 klar gegen eine verfassungsgerichtliche Kontrolle des gesetzgebenden Parlaments ausgesprochen hatte. Unter dem Eindruck der NS-Herrschaft hatte sich diese Einstellung grundlegend gewandelt. Gerichtlich einklagbare Grundrechte galten der SPD nun als bestes Mittel, um die fortgesetzte Anwendung nationalsozialistischer Gesetze und Verwaltungsvorschriften zu verhindern. Als Vorbild diente Brill und seiner Partei der Präzedenzfall, den ihre Mitglieder Georg August Zinn und Adolf Arndt mit der hessischen Landesverfassung geschaffen hatten.
In seiner Rede zum 75. Jahrestag des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier jüngst mehrfach auf den „engagierten Demokraten“ Hermann Louis Brill und seine Verdienste um das Grundgesetz verwiesen. Brills demokratisches Engagement erinnere auch heute an den bleibenden Wert der wehrhaften Demokratie im Angesicht der wachsenden Gefahr durch politische „Verfassungsfeinde“. Damit spielte Steinmeier unüberhörbar auf die jüngsten Wahlerfolge der AfD in Thüringen und Sachsen-Anhalt und die hohen Umfragewerte der Partei an. „Verfassungsfeinde“, so der Bundespräsident, „kann die Verfassung nicht integrieren.“
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ist Historiker und seit 2022 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin.