Geschichte

Warum Otto Suhr ein Glücksfall für die Sozialdemokratie war

Am 17. August 1894 wird Otto Suhr geboren. Ihm gelingt als „Arbeiterdoktor“ die Synthese von Wissenschaft und Politik. In Erinnerung ist der Sozialdemokrat vor allem als Regierender Bürgermeister von Berlin geblieben.
von Gunter Lange · 10. August 2021
Verdienstvoller Sozialdemokrat: Der Berliner Stadtverordnetenvorsteher Otto Suhr auf der Verfassungsversammlung im Schloß Herrenchiemsee im August 1948.
Verdienstvoller Sozialdemokrat: Der Berliner Stadtverordnetenvorsteher Otto Suhr auf der Verfassungsversammlung im Schloß Herrenchiemsee im August 1948.

Otto Suhr wächst in einem gutbürgerlichen Elternhaus auf. Er gilt als lerneifrig, legt in Leipzig das Abitur ab und beginnt dort ein Studium der Geschichte und Germanistik. Nach dem ersten Semester wird er zum Militär eingezogen. „Die gemeinsamen Jahre mit sächsischen Arbeitern im Schützengraben haben mich zum Sozialdemokraten gemacht“, sagt er viele Jahre später. Und er erwähnt seine damalige Lektüre des „vorwärts“.

Nach dem Krieg setzt er sein Studium fort, unter anderem Wirtschaftswissenschaften mit der Fachrichtung Zeitungswissenschaft. Er befasst sich mit Verfassungsgeschichte. Interessenvertretung und Verfassung wird sein Dissertationsthema. In Kassel beginnt Otto Suhr 1922 als erster Gewerkschaftssekretär des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) mit einem akademischen Grad. „Arbeiterdoktor“ heißt er bald.

„Die Welt der Wirtschaft vom Standpunkt der Arbeiter“

Betriebsräteschulung und Wirtschaftspolitik werden sein Arbeitsschwerpunkt. Und seine didaktischen und publizistischen Fähigkeiten finden Resonanz. Er unterstützt die junge Volkshochschulbewegung in Mitteldeutschland. „Die Welt der Wirtschaft vom Standpunkt der Arbeiter“, das ist sein Standardwerk, pragmatisch angelegt und an Alltagserfahrungen der Arbeiter orientiert; ein Gegenstück zur marxistischen Arbeiterschulung der KPD.

Mitte der 20iger Jahre holt ihn der Vorsitzende des sozialdemokratischen Angestelltenbundes (AfA), Siegfried Aufhäuser, in die Gewerkschaftszentrale nach Berlin. Suhr analysiert Branchen für Tarifrunden und publiziert jährlich über die Lebenshaltungskosten der Angestellten. Zusätzlich übernimmt er Lehraufträge an der Deutschen Hochschule für Politik. Zu seinem engeren Freundeskreis zählen berühmte Sozialdemokraten wie Rudolf Hilferding, Carlo Mierendorff, Theo Haubach und Adolf Reichwein.

Publikationen nach 1933 – bis auf Widerruf

Mit der Machtübernahme Hitlers 1933 ändert sich Otto Suhrs Lebensweg gravierend. Die Gewerkschaften sind ebenso zerschlagen wie die Sozialdemokratie. Suhrs Renommé als Wirtschaftswissenschaftler ermöglicht es ihm, als Wirtschaftjournalist für die Frankfurter Zeitung zu arbeiten. Nach den Nürnberger Rassegesetzen verliert er seine Zulassung bei der Reichsschrifttumskammer, denn er verweigert die Scheidung von seiner Ehefrau Susanne, die aus einem jüdischen Elternhaus kommt. Erst nach Intervention der Chefredaktion darf er weiter publizieren - auf Widerruf.

Im Mai 1945 nimmt Otto Suhr in Berlin Kontakt zu sozialdemokratischen Gewerkschaftern auf, beteiligt sich an Gründungsversammlungen, arbeitet im wirtschaftspolitischen Ausschuss der SPD mit, drängt sich aber nicht nach Mandaten. Er arbeitet in der Wirtschaftsbehörde des Berliner Magistrats. Der 1945 diskutierten Vereinigung von SPD und KPD begegnet er mit Skepsis. Suhr spürt den Druck, den die KPD mit Hilfe der Sowjets in diesem Prozess ausübt.

Erfolgreich in und für Berlin

Ein Teil der SPD in Berlin vereinigt sich 1946 mit der KPD zur SED. Suhr bleibt bei den Sozialdemokraten und wird deren erster Geschäftsführer. Die erste demokratische Wahl zur Stadtverordnetenversammlung in Berlin wird für die SED zum Fiasko mit nur 19,8 Prozent, die SPD erreicht 48,7 Prozent. Otto Suhr wird einstimmig zum Stadtverordnetenvorsteher, zum Parlamentspräsidenten, gewählt. Die Verfassung Berlins wie auch die Wiedererrichtung der Deutschen Hochschule für Politik werden seine Arbeitsschwerpunkte.

Otto Suhrs Verständnis von Verfassung widerspricht die Doppelfunktion von hervorgehobener Partei- und Parlamentsfunktion; er gibt das Amt des Geschäftsführers ab. Suhr beteiligt sich an den Verfassungsberatungen des Parlamentarischen Rates und wird im August 1949 von der Stadtverordnetenversammlung Berlins in den Bundestag gewählt. Dem gehen schwierige Verhandlungen im Rat und mit den Alliierten über den Status der Berliner Abgeordneten in Bonn voraus.

Der Regierende mit der Fliege

1952 gibt Otto Suhr sein Bundestagsmandat zurück, er will sich stärker auf seine Aufgabe als Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses und als Direktor der Deutschen Hochschule für Politik konzentrieren. 1955 nominiert ihn die SPD für das Amt des Regierenden Bürgermeisters, und er wird gewählt. Suhrs Bestreben ist es, Berlin und seine ungelösten Probleme im geteilten Deutschland wieder stärker auf die Agenda der Weltpolitik zu heben.

Eine schwere Erkrankung im Lymphdrüsensystem hindert ihn, noch erfolgreicher zu sein. Suhr stirbt am 30. August 1957 in Berlin 63jährig. Auf seine Vorarbeiten können seine Nachfolger wie Willy Brandt und Klaus Schütz aufbauen. Suhr, der Regierende mit der Fliege, war ein Glücksfall für die Sozialdemokratie. Über Jahrzehnte hinweg.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare