85 Jahre Novemberpogrome: Antisemitismus ist immer noch verbreitet
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Am Morgen des 10. November 1938 machte sich ein Trupp von SA-Männern im badischen Dorf Eberstadt daran, die zwölf dort lebenden Jüdinnen und Juden aus ihren Häusern zu holen und sie im örtlichen Feuerwehrhaus einzusperren. Als sich die betagte Witwe eines alteingesessenen jüdischen Viehhändlers dem Befehl verweigerte und auf ihrem Sofa sitzen blieb, zückte der Landwirt und NS-Ortsgruppenleiter Adolf Heinrich Frey seine Pistole und tötete die 81-jährige Susanna Stern mit drei Schüssen in die Brust und in den Kopf. Ungefähr zur selben Zeit betraten mehrere Gestapo-Beamte das jüdische Waisenhaus im niederrheinischen Dinslaken und befahlen dem Heimleiter Itzhak S. Herz, niemandem das Verlassen des Gebäudes zu gestatten. Wenig später stürmten mehrere Dutzend SA-Angehörige das Heim, zerschlugen die Fenster und zerstörten die gesamte Inneneinrichtung. Herz konnte mit den 32 Kindern und 13 Betreuer*innen vor den Eindringlingen fliehen. Als er im Rathaus um Hilfe bat, erklärte ihm der zuständige Hauptwachmeister, Juden hätten kein Anrecht auf Polizeischutz. Kurz darauf brannte nicht nur die Synagoge der Stadt, auch mehrere Wohnhäuser jüdischer Familien gingen in Flammen auf. Das Waisenhaus wurde geschlossen, ein Teil der Kinder konnte ins Ausland verbracht werden, aber nur etwa die Hälfte von ihnen überlebte den Holocaust.
Ein von oben orchestrierter Gewaltexzess
Die „Reichskristallnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938 – ein von der NS-Führung angeordneter und bis in die kleinsten Parteigliederungen und Gemeinden hinein ausexerzierter Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung, ihre Synagogen, Wohnhäuser, Geschäfte und Schulen – markierte nicht nur eine Zäsur in der sich stufenweise radikalisierenden antisemitischen Verfolgungs-, Entrechtungs- und Enteignungspolitik des „Dritten Reiches“, sie gilt auch als wichtiger Schritt in Richtung der Vernichtungspolitik. Für die am 9. November im Münchner Alten Rathaus versammelte NS-Führung, die den Jahrestag des „Hitlerputsches“ von 1923 feierte, war die Nachricht vom Tod des deutschen Legationssekretärs Ernst Eduard vom Rath in Paris – gestorben nach dem Attentat des 17-jährigen Juden Herschel Grynszpan – ein willkommener Anlass, den Befehl zu einem organisierten Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung zu geben. Was Hitler und Goebbels als legitimen Verteidigungsakt gegen eine „jüdische Weltverschwörung“ etikettierten und als „spontanen Ausbruch des Volkszorns“ inszenierten, war ein von oben orchestrierter Gewaltexzess. Ausgeführt wurde er an der Basis vor allem von der SA, die seit Monaten auf ein härteres Vorgehen im Umgang mit den mehr als 500.000 im Reichsgebiet lebenden Jüdinnen und Juden drängte.
Der Pogrom war aus Sicht der NS-Führung aber weit mehr als ein Zugeständnis an die gewalthungrige SA-Basis, der die scheinlegalen antisemitischen Ausgrenzungsmaßnahmen der vorangegangenen fünfeinhalb Jahre nicht weit genug gegangen waren: Die „Kristallnacht“ leitete die letzte Stufe der Enteignung der deutschen Juden ein, sie spülte mittels der „Judenvermögensabgabe“ und mehrerer anderer Verordnungen enorme Finanzmittel zur Kriegsvorbereitung in die Staatskasse, sie führte wie vom Regime erhofft zur spontanen Flucht von mehreren Zehntausend Jüdinnen und Juden ins Ausland, und sie machte der gesamten Bevölkerung deutlich, dass antisemitische Gewaltexzesse nun staatlich legitimiert und eine „Selbstermächtigung“ der „arischen“ Deutschen gegenüber ihren jüdischen Nachbarn geradezu erwünscht war – auch wenn Hitler im Nachgang Maßnahmen zur vermeintlichen „Einhegung“ des scheinbar „unkontrollierten Volkszorns“ anordnete.
Die große Mehrheit schaute weg
In der Folge des Pogroms wurden rund 400 Jüdinnen und Juden ermordet oder in den Suizid getrieben, Hunderte der über 30.000 jüdischen Männer, die verhaftet und in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verbracht worden waren, starben dort, mehr als 1.400 Synagogen und rund 7.500 jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden zerstört und geplündert, und auch Vergewaltigungen jüdischer Frauen sind belegt. In den Berichten der „Sopade“, der seit 1933 in Prag, seit Frühjahr 1938 dann in Paris ansässigen Exil-SPD, liest man von Empörung und Abscheu vieler nichtjüdischer Deutscher angesichts der massiven Gewaltausbrüche und Zerstörungen.
Vielfach galt diese Empörung aber nicht der Erniedrigung, Misshandlung und Inhaftierung von Jüdinnen und Juden oder der Zerstörung ihrer Gotteshäuser und Geschäfte, sondern der allgemeinen Gefährdung von „Ruhe und Ordnung“ oder auch den „Kollateralschäden“, die durch das Abfackeln von Synagogen entstanden waren. Wenngleich der Hauptteil der Gewalt von örtlichen SA-Trupps und Polizeikräften ausgegangen war, hatten sich dennoch überall auch „ganz normale Deutsche“ an den Zerstörungen, Plünderungen und Erniedrigungen beteiligt – auch Frauen, Kinder und Jugendliche. Die große Mehrheit schaute einfach weg, und wer bis zuletzt der Propaganda getrotzt und im Alltag weiterhin Kontakt zu Jüdinnen und Juden gepflegt hatte, ging spätestens jetzt auf Abstand, und wenn nur aus egoistischem Selbstschutz in Anbetracht des wachsenden Terrors.
Für einige Jahre der wichtigste Gedenktag
Zwar wurden in den ersten Nachkriegsjahren vielerorts Prozesse gegen die lokalen Rädelsführer der Gewalttaten des 9./10 November 1938 geführt, aber nach der Gründung der beiden deutschen Staaten sank die Bereitschaft zur Strafverfolgung rapide, und zahllose Täter kamen letztlich straffrei davon. Das Gedenken an die Opfer wurde in den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende fast ausschließlich von den kleinen jüdischen Gemeinden getragen: Die deutsche Mehrheitsbevölkerung interessierte sich ebenso wenig dafür wie die politisch Verantwortlichen in den Kommunen. Erst Ende der 1970er Jahre gerieten die historischen Ereignisse in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit, vor allem dank des Engagements der nun überall entstehenden Geschichtswerkstätten und Gedenkinitiativen, aber auch unter dem Eindruck der TV-Serie „Holocaust“ und der durch sie ausgelösten Welle des Interesses für das Schicksal von Jüdinnen und Juden in der Zeit des Nationalsozialismus.
Ging es um die Erinnerung an die NS-Verbrechen, markierte der 9. November für einige Jahre den wichtigsten Tag im Gedenkkalender der Bundesrepublik, bekam 1996 dann aber Konkurrenz durch den 27. Januar, der zunächst in Deutschland, 2005 dann auch international zum Holocaust-Gedenktag erhoben wurde. Anders als der Jahrestag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee 1945 zeichnet sich der Jahrestag der Novemberpogrome aber bis heute durch seine sehr konkreten lokalen Bezüge aus, da selbst die kleinsten Städte und Gemeinden von den antisemitischen Gewaltexzessen des Jahres 1938 erfasst worden waren und an manchen Orten zumindest Überreste der zerstörten Synagogen erhalten geblieben sind. Zivilgesellschaftliche Initiativen haben in den letzten Jahrzehnten wichtige Erinnerungsarbeit geleistet, aber es fällt doch auf, dass sie vielerorts immer noch von den Menschen getragen werden, die diese Arbeit vor rund vier Jahrzehnten begonnen haben – und heute im Rentenalter angekommen sind. Junge Leute sieht man bei den Gedenkveranstaltungen zum 9. November dagegen selten, und gleiches gilt für die Solidaritätskundgebungen mit Israel, die seit dem 7. Oktober 2023 bei uns stattgefunden haben.
Lichterketten und Gedenkreden reichen nicht aus
Was in Deutschland und in vielen anderen Ländern seit dem grauenvollen Massaker der Hamas-Terroristen an mehr als 1.400 Israelis zu beobachten ist, zeugt von einer Quantität und Qualität des Antisemitismus in all seinen verschiedenen Ausprägungsformen, den viel zu viele leider zu lange unterschätzt haben. Wenn wie in den 1930er Jahren Häuser mit Davidsternen markiert werden, wenn in Berlin ein Brandanschlag auf ein jüdisches Gemeindehaus verübt wird, wenn Menschen sichtbare Zeichen ihres Jüdischseins verstecken müssen oder erst gar nicht mehr das Haus verlassen, weil sie Übergriffe fürchten, wenn die bestialischen Taten der Hamas und der Jubel ihrer Sympathisant*innen als Akte des Widerstands relativiert, glorifiziert oder geleugnet werden und wenn in beträchtlichen Teilen der Gesellschaft mit Schweigen auf das größte antisemitische Massenverbrechen seit dem Holocaust reagiert wird, dann zeigt sich einmal mehr, dass der so gern bemühte Satz „Antisemitismus hat bei uns keinen Platz“ mehr Wunschdenken als Realität ist.
Denn ganz offensichtlich hat der Antisemitismus in unserer Gesellschaft sogar viele „Plätze“: Er bildet eine beunruhigende ideologische und aktivistische Schnittmenge zwischen Rechtsextremisten, Identitären und „Reichsbürgern“, Islamisten, antiimperialistischen Linken und postkolonialen Aktivist*innen, Esoteriker*innen und Verschwörungsideolog*innen, und er reicht in Form des „sekundären“, schuldabwehrenden und israelbezogenen Antisemitismus bis weit hinein in die viel beschworene „Mitte“ unserer Gesellschaft. Neben den aktuellen Ereignissen seit dem 7. Oktober sollte auch der 85. Jahrestag der Novemberpogrome des Jahres 1938 zum Anlass genommen werden, sich mit der gefährlichen Dynamik antisemitischer Propaganda und Gewalt auseinanderzusetzen und ihr mit allen Mitteln entgegenzutreten. Lichterketten und Gedenkreden reichen dazu allerdings bei weitem nicht aus.
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ist Sprecherin des SPD-Geschichtsforums und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung.