Thüringen vor der Wahl: „Die Gewaltbereitschaft wächst“
Im persönlichen Leben ist für die meisten Thüringer*innen alles schick. Dagegen halten sie die Politik der Landesregierung für kompletten Mist. So das Ergebnis einer neuen Studie. Im Interview erklärt der SPD-Landtagsabgeordnete Thomas Hartung, was hinter der polarisierten Stimmung steckt.
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Aufgeheiztes politisches Klima in Thüringen: Protestzug anlässlich eines Unternehmensbesuchs von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) in Floh-Seligenthal.
Deckt sich das Stimmungsbild der von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) veröffentlichten Studie „So tickt Thüringen“ mit Ihrem persönlichen Eindruck?
Zum Zeitpunkt der Erhebung der Daten im November hat das Thema Migration, wie in der Studie dargestellt, besonders viele Menschen beschäftigt. Mittlerweile flaut die Aufmerksamkeit ab. Das könnte daran liegen, dass die Leute merken, dass die Landesregierung handelt. Die enthüllten Gedankenspiele aufseiten der AfD und anderer Rechtsextremist*innen über Massenausweisungen könnten dazu geführt haben, dass einige aufgewacht sind, sich tiefer mit der Materie befasst und festgestellt haben: Dieses Land hat ganz andere Probleme als Zuwanderung. Meine Gespräche mit Bürger*innen drehen sich derzeit um Bildung, Rente, soziale Absicherung und den Krieg in der Ukraine.
Trotzdem bleibt die Frage: Wie kann Migration zum Top-Thema in einem Bundesland werden, wo der Anteil der Migrant*innen an der Bevölkerung nur bei gut fünf Prozent liegt?
Dieses Thema wird sicherlich immer wieder hochkommen. Das hat auch mit der Darstellung in den Medien zu tun. Denken wir etwa an Berichte über eine Arbeitspflicht für Asylbewerber*innen. Die Menschen springen auf solche getriggerten Meldungen auf. Das könnte im Vorfeld der Landtagswahl im September noch zunehmen.
Die Mehrheit der Befragten bewertet ihr persönliches Leben positiv. Trotzdem gibt es große Unzufriedenheit mit der Koalition, aber auch mit CDU und FDP. Welche Schlüsse zieht die SPD daraus?
Die Menschen sind mit der gesamten Politik unzufrieden. Wer sein Kreuz bei der AfD macht, unterscheidet nicht zwischen Bund, Land und Kommune. Viele politische Entscheidungen der letzten Jahre waren in den Augen vieler Menschen nicht nachvollziehbar. Das begann mit manchen Corona-Regeln und setzte sich beim Thema Energieversorgung fort. Der ständige Streit in der Ampel-Koalition im Bund ist nicht hilfreich.
Womit erklären Sie sich die hohe Unzufriedenheit mit der Politik der Landesregierung aus Linken, Grünen und SPD?
Auch Menschen, denen es vergleichsweise gut geht, haben Angst vor Veränderungen. Es sind Verlust- und Abstiegsängste. Womit wir wieder bei der Zuwanderung sind: Viele verstehen nicht, dass gerade in Regionen, aus denen junge Menschen wegziehen, Migration eine Chance ist, um das Leben dort aufrechtzuerhalten.
Wir reden mit den Menschen zu wenig darüber, was wir tun und wie wir es tun. Wahr ist aber auch: Spricht man mit den Leuten konkret über Änderungen bei der Subventionierung von Agrardiesel, macht sie das nicht glücklicher. Wenn diese Leute sagen, sie wählen aus Protest gegen die Agrardiesel-Reform die AfD, obwohl diese Partei sämtliche Subventionen streichen will, stößt man an seine Grenzen.
Im Bildungsbereich hat die Koalition jüngst wichtige Dinge angestoßen, etwa die schulstufenbezogene Lehrer*innenausbildung. Leider wird diese wichtige Reform von der CDU-Fraktion im Landtag blockiert, obwohl wir damit ein wirksames Instrument zur Bekämpfung des Lehrer*innenmangels schaffen würden.
Tragen die komplizierten Mehrheitsverhältnisse, die die Minderheitsregierung mit sich bringt, dazu bei, dass ihr viele Menschen ein schlechtes Erscheinungsbild attestieren?
Es geht nicht so sehr um das Erscheinungsbild. Die Menschen sehen, dass die sogenannten Altparteien, um den AfD-Jargon zu bemühen, nicht auf einen Nenner kommen, wenn gravierende Probleme wie Lehrer*innenmangel und Unterrichtsausfall zu lösen sind.
Die Gründe, warum es bei der besagten Bildungsreform bislang zu keinem Kompromiss gekommen ist, sind den Bürger*innen egal. Sie blicken auf den Dauerstreit und denken sich: Nun einigt euch doch mal. In diesem Punkt haben sie recht!
Thomas Hartung
Viele Menschen wählen die AfD nicht obwohl, sondern weil sie rechtsextrem ist.
Die SPD hat sich viel vorgenommen, um Verbesserungen im Alltag der Menschen zu erreichen, etwa durch die Stärkung der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum. Laut Wahlprogramm soll Thüringen zum familienfreundlichsten Bundesland werden. Muss die Partei ihre Ziele und Erfolge besser verkaufen?
Ein familienfreundliches Thüringen scheint nur wenige Menschen zu interessieren. Laut der FES-Studie ist Familienpolitik nur für gut fünf Prozent der Befragten relevant. Schlagworte helfen wenig. Wir müssen den Bürger*innen besser erklären, was „familienfreundlich“ im Detail bedeutet, dass damit zum Beispiel ein besserer Betreuungsschlüssel in den Kitas oder ein kostenloses Schulessen gemeint sind.
Um der polarisierten politischen Stimmung zu begegnen, plädieren die Autoren der Studie für eine „herausragende“ politische Bildung, Aufklärung über Sachzusammenhänge und nachvollziehbare politische Entscheidungen. Genügt das, um die AfD zu stoppen?
Die Forderung nach einer nachvollziehbaren Politik unterschreibe ich vorbehaltlos. Um Angebote der politischen Bildung wahrzunehmen, braucht es bei der Zielgruppe ein Defizitbewusstsein. Dieses haben Menschen, die aus einer rassistischen Motivation heraus AfD wählen, allerdings nicht. Man kann das also auch nicht erzwingen.
Eine erweiterte politische Bildung in Schulen kann aber wirksam sein, um künftige Wähler*innen für eine demokratische Einstellung zu gewinnen.
Die SPD setzt sich seit Jahren dafür ein, die Haushaltstitel für politische Bildung zu erhöhen. Die Koalition unterstützt Erstwähler*innen-Kampagnen und darüber hinaus Träger politischer Bildung, auch im Erwachsenenbereich, darin, eine überjährige Finanzierung zu bekommen, um mehr Planungssicherheit zu haben und mehrjährige Projekte auf den Weg bringen zu können.
Wir brauchen Maßnahmen, die schon jetzt einen weiteren Aufstieg der AfD verhindern. Sonst ist es in Thüringen eines Tages vielleicht ganz aus mit politischer Bildung.
Laut der FES-Studie sind typische AfD-Wählenden unter 30, männlich, Arbeiter, von eher durchschnittlicher Bildung sowie vom Land. Wie will die SPD diese Menschen erreichen? Welches Angebot hat sie für sie?
Das primäre Angebot besteht darin, an die Politik adressierte Probleme zu lösen. Die Landesregierung hat bei der Zuwanderung einiges in die richtige Bahn gelenkt und den Eindruck widerlegt, die Dinge würden drunter und drüber gehen. In der Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl hat es massive Schwierigkeiten gegeben. Innenminister Georg Maier hat daraus die Konsequenz gezogen, das Haus bis zum Jahr 2026 zu schließen. Der Neubau wird nach modernsten Richtlinien ausgestattet sein. Das wird den Unmut in der Region über die bisherigen Zustände dämpfen.
Aber es gilt eben auch: Ein großer Teil der AfD-Wähler*innen hat früher gar nicht gewählt. Darunter sind viele Menschen, die sich für unser gesellschaftliches und politisches System nicht wirklich interessieren. Sie wissen so gut wie nichts über Gewaltenteilung oder das Wahlrecht. Diese Menschen erreichen wir nicht, auch nicht, indem wir die Probleme lösen. Ein guter Teil von ihnen wählt die AfD nicht obwohl, sondern weil sie rechtsextrem ist.
Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken sieht das Vertrauen in die Demokratie allerorten schwinden. Wie spüren Sie das in Thüringen? Inwiefern ist die Situation dort eine besondere?
Rechtsextreme Tendenzen haben hier leider eine lange Tradition. 1930 hatte Thüringen als erstes Land eine Regierung unter Beteiligung der NSDAP. Rassismus und Antisemitismus von damals sind nicht verschwunden. In Form von Höckes AfD hat dieses Potenzial jetzt ein politisches Ventil gefunden.
Dass viele Menschen Schwierigkeiten mit der Demokratie haben, ist aber auch ein Ergebnis der vergangenen 35 Jahre. Immer wieder haben die Linke und ihre Vorgängerpartei PDS Zweifel an demokratischen Institutionen geschürt. Mittlerweile ist Die Linke in Thüringen staatstragend geworden. Menschen, die der Demokratie kritisch gegenüberstehen, haben sich daher einen neuen Fokus gesucht.
Obendrein haben etliche Ostdeutsche, die den Kurs der Ampel gegenüber Russlands Krieg gegen die Ukraine nicht mittragen, das Gefühl, mal wieder vom Westen untergebuttert zu werden. Auch das sorgt für Frust. Die Gewaltbereitschaft unter den Frustrierten wächst.
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