Geschichte

Wilhelm Leuschner: Netzwerker im Schatten von Stauffenberg

Als am 20. Juli Claus Schenk Graf von Stauffenberg ein Attentat auf Hitler verübt, gehört auch Wilhelm Leuschner zu den Verschwörer*innen. Wichtig ist der Sozialdemokrat vor allem wegen seiner Kontakte. Wenige Woche später wird er hingerichtet.
von Lothar Pollähne · 20. Juli 2024
Wilhelm Leuschner vor dem Volksgerichtshof: Am 8. September 1944 wurde der Sozialdemokrat zum Tode verurteilt.
Wilhelm Leuschner vor dem Volksgerichtshof: Am 8. September 1944 wurde der Sozialdemokrat zum Tode verurteilt.

Am 25. August 1944 fährt Elly Deumer nach Fürstenberg an der Havel in der Hoffnung, dort ihren Geliebten sehen zu können, der in der „Sicherheitspolizeischule Drögen“ inhaftiert ist. Sie wird jedoch nicht vorgelassen und geht spazieren. Wie gerne hätte sie diesen Spaziergang in Begleitung ihres Geliebten gemacht. „Aber Helm fehlt. Helm. Helm. Wiederkommen“, hält Elly Deumer in ihrem Kalender fest. Helm, das ist Wilhelm — Wilhelm Leuschner, aber er wird nicht wiederkommen.

Ein herausragender Netzwerker

Wilhelm Leuschner gehört zu den Verschwörer*innen aus der zweiten Reihe des „Kreisauer Kreises“ und ist in der öffentlichen Wahrnehmung weniger präsent als Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Zu Unrecht. Leuschner ist ein herausragender Netzwerker, der aufgrund seiner politischen Biografie über Vertrauensleute im gesamten deutschen Reich verfügt. Das macht ihn für die eher militärisch-artistokratischen Widerstandskämpfer*innen interessant.

Geboren wird Wilhelm Leuschner am 15. Juni 1890 als Sohn von Marie Dehler in Bayreuth und erhält deren Nachnamen. Erst nach der Heirat der Eltern im März 1899 wird er als eheliches Kind in das Standesamtsregister eingetragen und heißt fortan Leuschner. Nach Abschluss der Volksschule erlernt der künstlerisch begabte Junge von 1904 bis 1907 das Handwerk des Holzbildhauers. Am Ende seiner Lehre tritt Wilhelm Leuschner der Gewerkschaft der Holzbildhauer bei und begibt sich auf Wanderschaft. Anlässlich der Jugenstil-Ausstellung auf der Mathildenhöhe kommt Wilhelm Leuschner 1908 zum ersten Mal nach Darmstadt. Wegen einer schweren Erkrankung der Mutter kehrt er für kurze Zeit nach Bayreuth zurück, um nach deren Tod erneut auf Wanderschaft zu gehen.

Im Sommer 1910 zieht er endgültig nach Darmstadt. Sein Sohn Wilhelm kommt zur Welt und Leuschner sorgt als Holzbildhauer für den Lebensunterhalt der Familie. Im Jahr darauf wird seine Tochter Käthe geboren. Die Mutter der beiden Kinder, Elisabeth Batz, kann er jedoch erst 1911 nach Erreichen der Volljährigkeit heiraten.

Gewerkschaftsvorsitzender und SPD-Mitglied

Nachdem er bereits eine Zeit lang als ehrenamtlicher Bezirksleiter des Zentralvereins der deutschen Bildhauer tätig gewesen war, wird Wilhelm Leuschner 1913 zum stellvertretenden Vorsitzenden des Darmstädter Gewerkschaftskartells gewählt und tritt in die SPD ein. Bis 1916 kann er weiterhin als Holzbildhauer arbeiten, dann wird er zum Kriegsdienst eingezogen, den er zunächst in Pinsk in Weißrussland und ab Mai 1917 vor Verdun ableistet. Leuschner nutzt die Zeit, um Englisch und Französisch zu lernen. Am 9. November 1918 wird Wilhelm Leuschner in seinem Frontabschnitt zum Vorsitzenden eines Soldatenrates gewählt.

Nach der Rückkehr ins heimatliche Darmstadt beginnt Wilhelm Leuschners rasanter politischer und gewerkschaftlicher Aufstieg. 1919 wird er Vorsitzender des Gewerkschaftskartells und zieht für die SPD in den Rat seiner Heimatstadt ein. 1924 folgt die Wahl in den Landtag des Volksstaates Hessen, wo er sich als Schriftführer im Landtagspräsidium Erfahrungen über Sitzungsabläufe erwirbt. In der SPD-Fraktion gilt Leuschner als Polizeiexperte. Neben seiner Tätigkeit als Abgeordneter bleibt ihm genügend Zeit um 1926 den Vorsitz des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) in Südwestdeutschland zu übernehmen. Gleichzeitig wird er beratendes Mitglied im ADGB-Vorstand in Berlin.

Hassobjekt der Nazis

1928 wird die SPD nach der Landtagswahl stärkste Fraktion und der Innenpolitiker Wilhelm Leuschner übernimmt das Amt des Innenministers. In seine Amtszeit fällt die Verabschiedung einer demokratischen Kommunalverfassung, aber auch der Beschluss über das „Zigeunergesetz“, das nicht mit Leuschners Auffassungen über die Gleichberechtigung aller Staatsbürger übereinstimmt, dem er dennoch — wie die gesamte SPD-Fraktion — aus Rücksicht auf den Koalitionspartner „Zentrumspartei“ zustimmt.

Obwohl die Nazis 1931 die Landtagswahl gewinnen, bleibt Wilhelm Leuschner im Amt. Dabei hilft es, dass ihm ein abtrünniger Nazi-Abgeordneter das „Boxheimer Dokument“ zugänglich macht, welches Pläne für einen Umsturz skizziert und das aufkommende Terrorregime deutlich macht. Leuschner veröffentlich das Dokument und macht sich bei den Nazis zum Hassobjekt. Der „Vorwärts“ titelt am 26. November des Jahres: „Die Blutpläne von Hessen“. Koalitionen können die Nazis danach im Landtag des Volksstaates Hessen nicht mehr eingehen. Ein Untersuchungsverfahren wegen Landesverrats, das Wilhelm Leuschner gegen den Nazi-Abgeordneten Werner Best, den Verfasser des „Boxheimer Dokuments“, einleitet, wird 1932 vom Reichsanwalt eingestellt.

Mutiges Schweigen in Genf

Im Januar 1933 wird Wilhelm Leuschner zum Mitglied des Bundesvorstands des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes ADGB gewählt und in dieser Funktion Mitglied im Verwaltungsrat der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) in Genf. Nach der Machtübertragung zwingen die Nazis Wilhelm Leuschner, sein Amt als Hessischer Innenminister aufzugeben. Am 2. Mai 1933 wird Leuschner nach dem Sturm auf das Haus des ADGB in Berlin verhaftet und im Keller des Antikriegsmuseums eingesperrt und gefoltert. Nach wenigen Tagen lassen die Nazis Wilhelm Leuschner überraschend frei und zwingen ihn, den Führer der „Deutschen Arbeitsfront“, Robert Ley, nach Genf zu begleiten, um den nazideutschen Anspruch auf einen Sitz in der IAO zu rechtfertigen. Leuschner glänzt in der Vollversammlung der IAO durch sein „mutiges Schweigen“, wie sich ein Teilnehmer später erinnert. In Arbeitsgruppen-Gesprächen allerdings nimmt er kein Blatt vor den Mund über die Zustände in Hitlers Deutschland.

Trotz vielerlei Warnungen reist Wilhelm Leuschner nach Deutschland zurück und wird an der Grenze von der Gestapo verhaftet und misshandelt. Ein Jahr lang wird Leuschner in den Konzentrationslagern Börgermoor und Lichtenburg interniert. Dann kommt er unter Meldeauflagen frei und beginnt ungebeugt mit dem Aufbau eines reichsweiten gewerkschaftlichen Widerstandsnetzes. Dessen „Zentrale“ befindet sich ab 1936 in einer Fabrik für „Bierschankutensilien“ in Berlin-Kreuzberg, deren Leitung Wilhelm Leuschner übernommen hat. Leuschner beschäftigt dort vor allem Freunde aus der zerschlagenen Gewerkschaftsbewegung.

Denunziert, verhaftet, ermordet

Auf Grund seiner vielfältigen Kontakte in alle Bereiche des Widerstands macht sich Leuschner keine Illusionen über die Lage im Reich. Im August 1939 schreibt einem ausländischen Freund:

„Ich fürchte, dass es in diesem Herbst zum Krieg kommen wird, und dass dieser Jahre dauern wird“ und fügt hinzu: „Wir sind gänzlich unfähig, die Katastrophe zu verhindern. Wir sind Gefangene in einem großen Zuchthaus.“ Dennoch arbeitet Leuschner, versehen mit dem Tarnnamen „Onkel“, unverdrossen weiter im Widerstand. Wilhelm Leuschner wird als Vizekanzler in einer Übergangsregierung nach dem Sturz Hitlers gehandelt. Die Verhaftungswelle nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 macht diese Pläne zunichte. Leuschner muss abtauchen und versteckt sich bei seiner Freundin Elly Deumer in Berlin.

Am 15. August 1944 verabschiedet sich Wilhelm Leuschner von seiner Freundin. Am darauffolgenden Tag wollen sie gemeinsam einen befreundeten Arzt besuchen, aber „Helm“ kommt nicht. Er ist nach einer Denunziation verhaftet worden. Am 11. September notiert Elly Deumer in ihrem Tagebuch: „Urteil über Helm. Der Strang.“ Am 29. September 1944 wird Wilhelm Leuschner, der mit Sicherheit auch im demokratischen Deutschland eine gewichtige Rolle gespielt hätte, in Plötzensee gehenkt.

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Lothar Pollähne

ist Journalist und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Hannover.

2 Kommentare

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am So., 21.07.2024 - 08:09

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Es gehört zur Traditionslinie der BRD daß hauptsächlich auf den autoritär-konservativ-militärischen Widerstand, wenn auch da mit Widerwillen, Rücksicht genommen wurde. Vom Widerstand von Linken und bürgerlichen Demokraten (mitsamt der idiotischen Zerstrittenheit von Sozialdemokraten und Kommunisten) wollte die Adenauerregierung - auch unter dem Einfluss gewisser Westalliierter - nichts wissen.
Leider besteht diese Traditionsline als staatstragend immer noch fort.

Gespeichert von Helmut Gelhardt (nicht überprüft) am Di., 23.07.2024 - 12:09

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Wie so oft bringt Armin Christ es auf den Punkt:.. "idiotische Zerstrittenheit von Sozialdemokraten und Kommunisten" ... Hätten Sozialdemokraten und Kommunisten ( n i c h t Stalinisten ! ) in der Vergangenheit mehr am Verbindenden als am Trennenden gearbeitet, wäre in der Gesamtgeschichte sehr wahrscheinlich vieles viel positiver verlaufen. Auch heute tun sich Sozialdemokraten und demokratische Kommunisten in der Zusammenarbeit zu oft zu schwer - wenn es überhaupt zu einer zielführenden/ergebnisorientieren Zusammenarbeit/Kooperation kommt. Der Leitgedanke der Bildung einer demokratischen 'Einheitsfront' zur Verteidigung/Rettung vor dem Militarismus, Faschismus, Nazismus konnte und kann nie falsch sein. Hoffen wir, dass der Demokratische Sozialismus und der demokratische Kommunismus sich dessen bewusst werden. Im Kampf gegen die jedenfalls europäisch enorm erstarkte neue RECHTE wird es leider ein sehr wesentliches Betätigungsfeld für eine demokratische Einheitsfront geben.