20 Jahre EU-Osterweiterung: Wie massiv Deutschland davon profitiert hat
Am 1. Mai 2004 fand die erste große EU-Osterweiterung statt. 20 Jahre später erklärt der europapolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Christian Petry warum Deutschland davon profitierte und was er von neuen EU-Beitritten erwartet.
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Vor dem EU-Parlament in Straßburg weht sie bereits, die Fahne der Ukraine: Wann der angestrebte EU-Beitritt Wirklichkeit wird, ist noch unklar.
Am 1. Mai jährt sich zum 20. Mal die erste Osterweiterung der EU. 2004 traten Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechische und die Slowakische Republik, Ungarn und Slowenien der EU bei – außerdem wurden Malta und Zypern aufgenommen. Welche Bilanz dieser Erweiterung ziehen Sie heute?
Eine durchweg positive. Die Osterweiterung hat insbesondere Deutschland sehr viel Wohlstand gebracht. Wir haben in den letzten 20 Jahren volkswirtschaftlich erhebliche Überschüsse erzielt, im Durchschnitt etwa 100 Milliarden pro Jahr. Zudem haben wir neue Partner, neue Chancen und neue Offenheit dazugewonnen.
Manche bereuen angesichts der Entwicklung in Ungarn und der Slowakei – bis vor Kurzem auch in Polen – die Erweiterung um diese Länder. Können Sie das verstehen?
Das kann ich verstehen. Die Orbans dieser Welt sind sicherlich bittere Wermutstropfen. Es ist besorgniserregend, dass es in manchen Staaten derartige Rückschritte in Sachen Demokratie, Freiheit, Rechtsstaat und Menschenrechte gibt. Damit dürfen wir uns nicht abfinden. Angesichts dieser Herausforderungen ist es umso wichtiger, das Europäische Parlament zu stärken und sicherzustellen, dass wir bei der kommenden Europawahl die demokratischen Kräfte festigen.
„Deutschland hätte große Vorteile"
Die Europawahl am 9. Juni gilt vielen als Schicksalswahl für die Zukunft der EU. Gilt das auch für die Pläne zur Erweiterung der EU Richtung Osten?
Das Entscheidende ist, demokratische Mehrheiten im EU-Parlament zu erhalten. Das hat dann auch Auswirkungen auf die Erweiterung, denn die Nationalisten und Rechtspopulisten lehnen sie ab. Hätten sie damit Erfolg, würde das der EU und Europa schweren Schaden zufügen.
Die Ausdehnung der EU hätte Folgen für Europa. Sollte sie dann nicht stärker – Sie kandidieren ja auch für das EU-Parlament – im Europawahlkampf thematisiert werden?
Wichtig ist, das Ganze sachlich zu thematisieren. Wir sprechen über die Erweiterung zu oft nur aus geopolitischer Perspektive. Aber klar ist: Auch Deutschland hätte große Vorteile, wenn die EU neue Partner bekommt. Zum einen mehr Freiheit, mehr Begegnung, mehr Chancen, zum anderen handfeste wirtschaftliche Vorteile, denn jede Erweiterung hat bisher einen wirtschaftlichen Schub für die bisherigen EU-Länder gebracht.
Welche Auswirkungen hat der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine für den Erweiterungsprozess?
Der Angriffskrieg hat uns erneut vor Augen geführt, dass die demokratische und rechtsstaatliche Entwicklung unserer Nachbarn in unserem ureigenen Interesse liegen. Das hat Dynamik in den Erweiterungsprozess gebracht, auch wenn die EU an ihrem strengen Katalog von Voraussetzungen für einen Beitritt gar nichts geändert hat.
„Erhebliche Fortschritte" der Ukraine
Wie rasch kann der Beitritt der Ukraine erfolgen?
Die Ukraine muss genau die gleichen Kriterien erfüllen wie alle anderen Beitrittskandidaten. Dies ist auch richtig, denn die Kriterien tragen dazu bei, die pluralistische Demokratie zu stärken. Die Ukraine hat es in Kriegszeiten natürlich ungleich schwerer als andere Beitrittsländer. Umso beachtlicher ist es, welche erheblichen Fortschritte die Ukraine gemacht hat. Das stimmt mich sehr zuversichtlich.
Die Türkei gilt immer noch als EU-Beitrittskandidat. Mit welcher Perspektive?
Seit 1963 bemüht sich die Türkei um den Beitritt. Damit ist sie Rekordhalter in der Wartezeit. Doch unter Erdogan ist sie von einem Beitritt weit weggerückt. Unter seiner Herrschaft wird es da auch keine Fortschritte geben. Ich hoffe deshalb auf die sozialdemokratische CHP und ihren Sieg bei den nächsten Wahlen. Erst dann könnte es wieder Schritte der Türkei auf Europa zu geben.
Sie sagen, ohne institutionelle Reformen der EU könne es keine Erweiterung geben. Welche Reformen sind dabei unverzichtbar?
Ganz oben steht die Begrenzung des Einstimmigkeitsprinzips auf wenige wichtige Themen. Der Grundgedanke des Prinzips war die Beteiligung aller Länder – auch der Kleinen. Heute dient das Prinzip Despoten aber zu oft als Erpressungsmittel. Insbesondere beim Erweiterungsprozess müssen Mehrheitsentscheidungen auch bei Zwischenschritten zur Regel werden.
„Man könnte das Einstimmigkeitsprinzip reformieren"
Wie realistisch sind solche Reformen in der nächsten Zeit?
Da ist Kreativität gefragt. Historisch betrachtet war jede Beitrittswelle mit institutionellen Reformen verbunden. Aus meiner Sicht wäre es eine interessante Überlegung, zukünftige Integrationsschritte direkt an die Mitgliedschaft neuer Staaten zu koppeln. Ein Beispiel: Der Beitritt der Ukraine würde eine Vertragsänderung nötig machen. In diesem Zuge könnte man das Einstimmigkeitsprinzip reformieren. Wer also für den Beitritt Kiews ist, müsste dann der Reform zustimmen.
Als Reaktion auf den Sieg des Populisten und Putin-Sympathisanten Peter Pellegrini bei den Präsidentschaftswahlen in der Slowakei hat der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen dem Land einen Austritt aus der EU nahelegt. Was halten Sie davon?
Pellegrinis Rhetorik gibt Anlass zur Sorge. Herr Röttgen und die CDU wären aber glaubwürdiger, wenn sie Herrn Orban auch schon kritisiert hätten, als er noch mit Fidesz in der EVP war und nicht erst danach.
EU Erweiterung
Da bin ich skeptischer.
"........welche erheblichen Fortschritte die Ukraine gemacht hat." JA, welche denn?
Geopolitisch stellt sich die EU (das lateinische Europa vergangener Zeiten !!!) als NATO Vorfeld Organisation dar. Die Geschäfte der Frau vonderLaien sind ein Fall mit dem sich die belgische Staatsanwaltschaft befasst. Viele Menschen in der EU finden sich durch ein bürokratisches Monster fremdbestimmt. Mit Beteuerungen wie "wir sind Europäer". wir sind die Demokraten" lässt sich die allgemeine Skepsis nicht so einfach wegwischen.
Und nun wird Pellegrini verteufelt; ist das sozialdemokratische Solidarität ?
„Ein klares Ja, ... stichhaltige Gründe, die aufhorchen lassen“.
Christian Petry wirbt für die „Erweiterung der EU Richtung Osten“ mit der Aussage,
„die Osterweiterung hat insbesondere Deutschland sehr viel Wohlstand gebracht“, nämlich „Überschüsse (von) im Durchschnitt etwa 100 Milliarden pro Jahr“ - so weit Petry, jetzt die Fakten.
2023 hat die BRD in die Länder der „Osterweiterung“ (Baltische Staaten, Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Rumänien, Bulgarien und (etwas deplatziert) Slowenien) Güter und Dienstleistungen im Werte von 243 Mrd. € exportiert und für 238,3 Mrd. € importiert (Statistisches Bundesamt 2024). Der Außenbeitrag mit diesen Ländern, und das ist wohl mit „den Überschüssen“ gemeint, betrug 2023 also 4,76 Mrd. €. Unser BIP, Maßstab für unseren Wohlstand, wurde also durch die „Osterweiterung“ um 4,76 Mrd. € vergrößert. Gemessen am gesamten BIP (4.120 Mrd. €) sind das 0,116%. Ist das „sehr viel Wohlstand“?
Die EU fördert ihre Mitgliedsländer durch hohe Beträge über zahlreiche „EU-Förderprogramme“ (Europäische Kommission). Aufgebracht werden diese Fördermittel durch die Mitgliedsländer. Dieser Mechanismus fordert zur Betrachtung auf, wer mehr einzahlt als er herausbekommt (Nettozahler) und umgekehrt (Nettoempfänger): Alle Länder der „Osterweiterung“ sind Nettoempfänger und wurden 2022 mit insgesamt 32,559 Mrd. € netto gefördert. Polen z. B. bekam netto 11,9 Mrd. €, Ungarn 4,4 Mrd. € und Rumänien 5,6 Mrd. € aus dem EU-Haushalt. Deutschland dagegen stand mit 19,7 Mrd. € an erster Stelle der Nettozahler (IW-Report 48/2023). Diesen Betrag kann man (fast) gänzlich auf die Länder der „Osterweiterung“ verteilen, sodass er sicher den Außenbeitrag von 4,76 Mrd. € um ein Mehrfaches übersteigt. Die ökonomische Bedeutung der Länder der „Osterweiterung“ sind für uns also ein deutliches Verlustgeschäft. Das wird auch noch ein, zwei Jahrzehnte verstärkt so bleiben, wenn die EU den Wiederaufbau der Ukraine übernehmen wird.
Mit „sehr viel Wohlstand“, den die „Osterweiterung insbesondere Deutschland gebracht hat“, wird Christian Petry im Europa-Wahlkampf also nicht punkten und seine Begeisterung für die EU-Aufnahme der Ukraine nicht erklären können. „Stichhaltige Gründe, die aufhorchen lassen“, jedenfalls hat er nicht beigebracht; es sei denn, er hält „neue Partner, neue Chancen und neue Offenheit dazugewonnen“ zu haben dafür.
„Wir sprechen über die (Ost-) Erweiterung zu oft nur aus geopolitischer Perspektive“, bedauert Petry; auch der Artikel macht das. Bereits die erste Frage verbindet die „Zukunft der EU (mit der) ... Erweiterung der EU Richtung Osten“. Allerdings ist die aufgezeigte „geopolitische Perspektive“ dramatisch verkürzt, denn statt „das Ganze sachlich zu thematisieren“, was „wichtig wäre“, ist die Entscheidung für die Osterweiterung (von EU und Nato) bereits gefallen und offizielle Strategie. Beide großen Strategien der EU, Osterweitung und Zweistaatenlösung für Palästina, sind allerdings, nüchtern betrachtet, in einem „geopolitischen Desaster“/Krieg (vorläufig) geendet, müssten also dringend auf den Prüfstand gestellt werden. Das geschieht aber nicht ansatzweise. Darum wage ich zu behaupten, dass das Wahl-Narrativ, die SPD ist für die Osterweiterung einschließlich Ukraine (und perspektivisch Georgien) - aber „die Nationalisten und Rechtspopulisten lehnen sie ab“, eine Idee ist, die den „Nationalisten und Rechtspopulisten“ eher nützt als der SPD. Immerhin ist das Beharren Petrys, wie auch Scholz´, den Beitritt der Ukraine zur EU und jede andere Aufnahme an „institutionelle Reformen der EU (Aufhebung des Einstimmigkeitsprinzip) zu binden“, eine pfiffige Idee, denn das Beharren darauf hätte zur Folge, dass die Ukraine (wohl) nie Mitglied der EU werden würde. Allerdings hat sich die EU-Kommission schon so vehement für eine baldige Aufnahme der Ukraine in die EU öffentlich festgelegt, dass sie wohl kaum noch dahinter zurückgehen kann. Das werden auch die Slowakei/ Peter Pellegrini, Ungarn und andere Halsstarrige noch einsehen müssen.
Was der SPD in Deutschland und in der EU wirklich helfen würde, wäre eine Friedensperspektive des Westens/der EU, die für die Ukraine eine europäische, also eine die Russische Föderation einschließende anzubieten hätte. Die von Scholz angestrebte Lösung, in der eine internationale Allianz Russland von der Nato/EU-Sicht des Ukrainekrieges und seiner Beendigung überzeugen soll, wird nicht funktionieren. China, Indien, Brasilien, afrikanische Länder haben eine völlig andere Sicht auf den Krieg in der Ukraine als wir. Alle diese Länder gestehen dem Westen keine Führungsrolle mehr zu, weder politisch-moralisch, noch wirtschaftlich, noch militärisch.
Die SPD kann darum nur die Alternativen anbieten: Russland zieht seine Truppen bedingungslos ab oder Krieg bis zur Erschöpfung. „Erschöpfung“ ist dabei ein sehr, sehr euphemistisches Bild. Natürlich unterstellt die SPD die Erschöpfung auf russischer Seite.
Profit !!!
Natürlich haben einige in Deutschland mit der EU-Osterweiterung ihren Profit gemacht; ich denke da an die Fleischindustrie oder die Besitzer von Spargelplantagen, Erdbeerplantagen etc.
Ob das auch vorteilhaft für die Mehrheit der Arbeitnehmer war und ist wage ich zu bezweifeln, denn in vielen Bereichen wird per Ausbeutung von Osteuropäischen Billiglöhnern (da wird sogar der Mindestlohn umgangen) das allgemeine Lohnnivieau gedrückt (z.B.: LKW-Fahrer). Kurzfristig wurde die Unterbringung und die Arbeitsbedingungen von osteuropäischen Arbeinehmer dank Coronaausbrüchen mal skandalisiert aber das hat sich ja mittlerweile beruhigt. Hubertus Heil versprach damals ........., aber von diesem Herrn habe ich schon lange nichts mehr gehört.
Wer dieses Deutschland ist, daß da gemäß Author profitiert hat kann ich schlecht sagen, denn wer ist da der Herr, die Dame, gar Diverserer "Deutschland" ???????
EU-Euphorie ist nach meinem Dafürhalten für die Mehrheit der hier lebenden Menschen mit der bestehenden Situation nicht erzeugbar.
Wo ist denn die deutsch-französische Zusammenarbeit geblieben ? denn die lag mir trotz alledem als gebürtigem Südpfälzer immer am Herzen.