Geschichte

Wie Adolf Arndt zum demokratischen Gewissen wurde

Als Verfolgter des Nationalsozialismus hat er in der Verjährungsdebatte Haltung gezeigt. Und nicht nur dort. Vor bald 120 Jahren wurde der SPD-Politiker Adolf Arndt geboren.

von Lothar Pollähne · 13. Februar 2024
Verjährungsdebatte am 10. März 1965 im Deutschen Bundestag

Die Aufarbeitung von NS-Verbrechen stand auf dem Spiel: Die SPD-Abgeordneten Adolf Arndt (vorn) und Max Brauer während der Verjährungsdebatte am 10. März 1965 im Deutschen Bundestag.

Die Sitzung des Deutschen Bundestages vom 10. März 1965 gilt als „Sternstunde des Parlamentarismus“. Auf der Tagesordnung steht die sogenannte Verjährungsdebatte, denn bereits am 8. Mai könnten Nazi-Mordtaten nach 20 Jahren verjähren. Da die Meinungen zum Thema „Verjährung“ in den meisten Fraktion nicht einheitlich sind, ist der so genannte Fraktionszwang aufgehoben.

Die Debatte widerspiegelt diese Divergenzen. Nur der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, ein erklärter Befürworter der Abschaffung der Verjährungsfrist für Mord und Totschlag, sorgt mit einem persönlichen Bekenntnis für einen Paukenschlag, indem er erklärt: „Ich weiß mich mit in der Schuld. Denn sehen Sie, ich bin nicht auf die Straße gegangen und habe geschrien, als ich sah, dass die Juden aus unserer Mitte lastkraftwagenweise abtransportiert wurden. Ich habe mir nicht den Gelben Stern umgemacht und gesagt: Ich auch! Ich kann nicht sagen, dass ich genug getan hätte“, und fügt mahnend hinzu: „Man kann doch nicht sagen: Ich war noch nicht geboren, dieses Erbe geht mich gar nichts an.“ 

Damit nimmt ein Mann Schuld auf sich, der es aufgrund seiner Biografie nicht nötig gehabt hätte und beschämt diejenigen, die meinen, es nicht nötig zu haben: Adolf Arndt, der als sogenannter Halbjude selber Berufsverbot und Nazi-Haft hinter sich hatte. 

Republikanische Überzeugung

Adolf Arndt gehört, wie Carlo Schmid, zu den bürgerlichen Intellektuellen, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg aus republikanischer Überzeugung zur SPD gestoßen sind. Geboren wird Karl Otto Adolf Arndt am 12. März 1904 im damals ostpreußischen Königsberg als Sohn des Professors für Staats- und Bergrecht, Gustav Adolf Arndt, und seiner Frau Louise. Die Familie zieht zunächst nach Berlin und 1920 nach Marburg. Dort legt Adolf Arndt zwei Jahre später seine Reifeprüfung am Gymnasium Philippinum ab. Anschließend studiert er in Marburg und Berlin Rechtswissenschaften, Nationalökonomie und Philosophie. 

Nach dem Zweiten juristischen Staatsexamen wird Adolf Arndt mit einer Arbeit über kartellrechtliche Verwaltungsakte zum Dr. jur. promoviert. Seine erste Anstellung findet er als Rechtsanwalt in der Kanzlei des berühmten republikanischen Strafverteidigers Max Alsberg, zu dessen Klienten Carl von Ossietzky zählt. 

1929 tritt Arndt als Assessor in den preußischen Justizdienst ein. Im Jahr darauf wird er zum Richter an das für politische Straftaten zuständige Landgericht III in Berlin berufen. Arndt wird Berichterstatter im Gotteslästerungs-Prozess gegen den Künstler George Grosz, dessen Jesus-Bild mit Gasmaske von Erwin Piscator und Bertolt Brecht als Bühnenbild benutzt worden war.

Im Prozess gegen Joseph Goebbels wegen der Organisation der antisemitischen „Kurfürstendamm-Krawalle“ vom 12. September 1931 fungiert Adolf Arndt ein Jahr später als beisitzender Richter. 

Einsatz für politisch Verfolgte

Nach der Machtübertragung an die Nazis legt Adolf Arndt sein Richteramt vorsorglich nieder und kommt so der Entlassung zuvor. Arndt wird daraufhin Rechtsanwalt in der Kanzlei von Fritz Schönbeck in Berlin und vertritt neben Wirtschaftsunternehmen auch politisch Verfolgte, wie die sozialdemokratischen Gewerkschafter Wilhelm Leuschner und Theodor Leipart. 

Bis zum deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 kann Adolf Arndt anwaltlich tätig sein,  dann wird er aus der Anwaltskammer ausgeschlossen. Die ersten Kriegsjahre übersteht er politisch unauffällig. 1943 wird Arndt zur Zwangsarbeit in der „Organisation Todt“ verpflichtet. Im Sommer 1944 wird er inhaftiert, kann aber Anfang 1945  fliehen und sich illegal zu seiner Familie nach Schlesien durchschlagen. Von dort aus flüchtet er mit seiner Familie nach Westfalen.

Im August 1945 wird Adolf Arndt in Marburg als Rechtsanwalt und Notar zugelassen, wechselt aber schon bald auf Veranlassung der US-Besatzungsmacht als Oberstaatsanwalt in den hessischen Justizdienst. Hessens Justizminister Georg August Zinn ernennt ihn wenig später zum Leiter seiner Strafrechtsabteilung. 1946 wird Adolf Arndt Mitglied der SPD und erschließt sich damit neben der juristischen auch die politische Laufbahn. 1948 rückt er zum Landesanwalt und damit zum Mitglied des Staatsgerichtshofes im Lande Hessen auf. 

Mitwirkung bei der Währungsreform

Seinen ersten politischen Karriereschritt macht Adolf Arndt, als er ebenfalls 1948 zum Mitglied des Wirtschaftsrates der BI-Zone ernannt und zum Vorsitzenden des Rechtsausschusses gewählt wird. Außerdem sitzt er dem Sonderkomitee „DM-Eröffnungsbilanz“ vor und nimmt damit eine herausgehobene Position bei der Durchführung der Währungsreform ein.

Seine Erfahrungen aus dem Wirtschaftsrat dürften dazu beigetragen haben, dass Adolf Arndt von der SPD als Direktkandidat im Wahlkreis Hersfeld für die Bundestagswahl am 14. August 1949 nominiert wird. Arndt gewinnt und gehört vom 7. September des Jahres dem Bundestag an. Sein Amt als Landesanwalt gibt er daraufhin auf. 

Auch in der SPD-Fraktion werden seine Kenntnisse so hoch geschätzt, dass er zu einem der beiden Parlamentarischen Geschäftsführer und zum Justitiar gewählt wird. Wenige Wochen später steht Adolf Arndt die erste juristische Bewährungsprobe ins Hohe Haus. Am 22. November 1949 hatte Bundeskanzler Konrad Adenauer in seinem sehr ichbezogenen Verständnis von Demokratie das “Petersberger Abkommen“ mit der Alliierten Besatzungsmacht geschlossen, das als Einstieg in die Bewaffnung der Bundesrepublik Deutschland gilt. 

Adenauer wird sein Lieblingsgegner

Im Auftrag von Kurt Schumacher, der die Rechte des Parlaments missachtet sieht, reicht Arndt Klage vor dem Bundesverfassungsgericht ein. Dieses Verfahren verliert er 1952, obwohl auch das Hohe Gericht zugesteht, dass der Bundestag übergangen wurde. 

Adenauer wird zum Lieblingsgegner Adolf Arndts, dessen moralisch-politisches Handeln von der Maxime bestimmt ist, das Recht habe die politische Macht zu kontrollieren. Am 24. Juni 1958 erreicht Adolf Arndt vor dem Bundesverfassungsgericht, dass große Parteispenden, von denen vor allem die rechten Parteien profitieren, nicht mehr steuerlich begünstigt werden dürfen. Damit bereitet er Konrad Adenauer eine empfindliche Niederlage.

Arndts größter Erfolg als Justitiar der SPD-Bundestagsfraktion leitet 1961 das Ende der Ära Adenauer ein. Gegen die Kulturhoheit der Bundesländer hatte der Bundeskanzler versucht, das als „Adenauer-Fernsehen“ in die Geschichte eingegangenen „Deutschland-Fernsehen“ zu installieren. Arndt klagt dagegen im Namen der SPD-Bundestagsfraktion und einiger, sozialdemokratisch regierter Bundesländer — und gewinnt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) „adelt“ Adolf Arndt in Anerkennung seiner juristischen Erfolge zum „Kronjuristen der SPD“.

Mit Moral gegen die Todesstrafe

Vor allem im Deutschen Bundestag setzt der begnadete Rhetoriker Arndt rechtspolitische Maßstäbe im Kampf gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr, gegen ein politisches Strafrecht und gegen die Wiedereinführung der Todesstrafe. Arndts Argumentation ist bestechend und hochmoralisch: „Wenn wir zustimmen, müssen wir auch bereit sein, mit eigenen Händen Henkersdienste zu leisten.“ 

Als Mitglied des Bundesvorstands der SPD nimmt Adolf Arndt in zwei entscheidenden Passagen Einfluss auf die Gestaltung des Godesberger Programms. Zum einen setzt er im Gegensatz zum Leiter der Programmkommission, Willy Eichler, die eindeutige Orientierung auf das Grundgesetz durch — und gegen den Widerstand vieler antiklerikal geprägter Parteimitglieder betont der überzeugte Lutheraner Adolf Arndt die Achtung der Kirchen und Religionsgemeinschaften und bejaht ihren öffentlich-rechtlichen Schutz.

1957 wird Adolf Arndt als Kandidat für das Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin ins Gespräch gebracht, lehnt aber als „Nazi-Verfolgter“ eine Kampfkandidatur gegen den „nazi-verfolgten“ Willy Brandt ab und bleibt Mitglied des Bundestages. Dort wird er bald als „Mann ohne Gesicht“ tituliert, weil er sich weigert, seine Vita und sein Foto für das Bundestagshandbuch freizugeben. Die CDU hatte in voraufgegangenen Wahlkämpfen biografische Angaben aus dem Handbuch missbraucht.

Wechsel in die Kulturpolitik

Am 11. März 1963 übernimmt Adolf Arndt neben seinem Bundestagsmandat auf Bitten Willy Brandts in Berlin das neu geschaffene Amt des Senators für Wissenschaft und Kunst an. Arndt ist neben seiner Juristerei auch ein ausgewiesener Kulturpolitiker und anerkannter Architektur-Kritiker.

1960 befasst er sich in einer Rede mit dem Thema „Demokratie als Bauherr“, die er bewusst gegen die verängstigende Kollossal-Architektur der Nazis setzt. Prächtig soll die demokratisch geprägte Baukultur schon sein, aber nicht überbordend. Vor allem aber soll sie künstlerisch qualitätvoll sein. Auch daher ist Adolf Arndt der geeignete Kandidat für den Vorsitz des „Deutschen Werkbundes“, den er von 1964 bis 1969 ausübt.

Zum Ende seiner politischen Karriere kann Adolf Arndt eine Erfahrung machen, die bis heute einzigartig ist: Am 4. Juni 1968 rückt sein Sohn Claus in den Bundestag nach. Ein Jahr lang sind sie Parlamentskollegen. Mit dem Ende der Legislaturperiode scheidet Adolf Arndt 1969 aus dem Deutschen Bundestag aus. Damit verliert das Parlament ihren versiertesten juristischen Kopf. 

Wie Adolf Arndt fortlebt

Hochgeehrt mit der Ehrenmitgliedschaft in der Akademie der Künste, dem Kritikerpreis des Bundes Deutscher Architekten (BDA) und einer Professur des Landes Nordrhein-Westfalen, stirbt Adolf Arndt am 13. Februar 1974 in Kassel. Er lebt „im Selbstverständnis der SPD als freiheitliche Partei und in deren Eintreten für gelebte, verantwortungsvolle Demokratie fort.“ So hat es Brigitte Zypries in einer Würdigung zum 100. Geburtstag von Adolf Arndt formuliert.

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Lothar Pollähne

ist Journalist und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Hannover.

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