Wehrmacht-Ausstellung: Warum Otto Schily im Bundestag weinte
Im März 1997 debattierte der Bundestag hitzig über eine Ausstellung zu den Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Unser Autor beleuchtet, warum die Debatte dazu führte, dass Otto Schily weinte und die Grüne Christa Nickels Angst vor der SS-Vergangenheit ihres Vaters hatte.
Die Fronten waren verhärtet. Gegner*innen und Befürworter*innen der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ tauschten im Vorfeld der Bundestagsdebatte unerbittlich ihre Positionen aus. Das ließ nichts Gutes erwarten, als am späten Donnerstagabend des 13. März 1997 der Tagesordnungspunkt „Ausstellung: Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ aufgerufen wurde.
Verhärtete Fronten im Bundestag
Die Union paktiere in der Ablehnung mit dem „rechten Sumpf“, kritisierte der Grünen-Abgeordnete Gerald Häfner scharf. Und Alfred Dregger, Wehrmachtssoldat und später als CDU-Abgeordneter erzkonservativer Exponent der „Stahlhelm-Fraktion“, warf den Initiatoren der Ausstellung um den Hamburger Wissenschaftler Philipp Reemtsma vor, sie wollten mit ihrer einseitigen Verurteilung der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg „Deutschland ins Mark treffen“.
Die absehbare Frontstellung oder – zivil formuliert – die zu erwartende Rollenverteilung ließ befürchten, die Debatte werde zu einem Schauplatz von üblen Zwischenrufen und Schuldzuweisungen.
Als im Parlament ein kleines Wunder passierte
Dann aber passierte im Parlament ein kleines Wunder, das Bettina Gaus, Bonner Korrespondentin der taz, so beschrieb: „Es geschah, was ganz selten geschieht im Bundestag: Die Abgeordneten hörten einander zu. Lange. Es wurden keine Akten ausgezeichnet, es wurden keine Zeitungen gelesen, es wurde nicht telefoniert.“
Mitten in der aufgebrachten Stimmung mahnte der Abgeordnete Otto Schily zur Besinnung. „Das Thema, das wir heute diskutieren, eignet sich nicht für Polemik“, begann der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende seine Rede. Und bald spürten alle, dass das für den häufig unterkühlt wirkenden Juristen keine Floskel war. Er warnte vor „selbstgefälliger Moral“ gegenüber den Soldaten, die an den Verbrechen der Wehrmacht beteiligt waren. Er fragte: „Wer von uns könnte ohne weiteres behaupten, dass er zum Beispiel den Mut eines deutschen Soldaten aufgebracht hätte, der sich der Exekution von wehrlosen Zivilsten verweigerte und sich schweigend in ihre Reihe stellte, um den Tod mit ihnen zu teilen?“
Schily kämpfte mit den Tränen
Dann hielt der „Redner“ – wie das Protokoll vermerkte – „inne“. Er kämpfte mit den Tränen. Im Plenum wurde es still. „Gestatten Sie mir an dieser Stelle einige persönliche Bemerkungen“, hob Schily erneut an, redete über das Schicksal seines Onkels Fritz Schily, Oberst der Luftwaffe, „ein Mann von lauterem Charakter“. Und wieder brach ihm die Stimme, es dauerte lange, bis er über das Schicksal dieses Onkels reden konnte. Er habe in „seiner Verzweiflung über die Verbrechen des Hitler-Regimes bei einem Tieffliegerbeschuss den Tod“ gesucht. Schilys Bruder Peter habe die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend verweigert, sei ins Ausland geflüchtet und habe sich später freiwillig zur Wehrmacht gemeldet, wurde als Pionier im Russlandfeldzug eingesetzt und dort schwer verletzt. Er sprach von seinem Vater, der es als demütigend empfand, dass er wegen seiner Mitgliedschaft in einer von den Nazis verbotenen anthroposophischen Gesellschaft nicht zum Wehrdienst eingezogen wurde.
Und dann erzählte er vom „Vater meiner Frau“, Jindrich Chajmovic, einem jüdischen Partisan, der in Russland gegen die deutsche Wehrmacht kämpfte. „Nun sage ich einen Satz, der in seiner Härte von mir und uns allen angenommen werden muss: Der einzige von allen vier genannten Personen – der einzige! –, der für eine gerechte Sache sein Leben eingesetzt hat, war Jindrich Chajmovic: Denn er kämpfte gegen eine Armee, in deren Rücken sich die Gaskammern befanden… Er kämpfte gegen eine deutsche Wehrmacht, die sich zum Vollstrecker des Rassenwahns, der Unmenschlichkeit des Hitler-Regimes erniedrigt und damit ihre Ehre verloren hatte.“
„Wie hättest Du wohl als 18-Jähriger reagiert?“
Mag sein, dass es diese persönlichen Einblicke waren, die den nächsten Redner, den FDP-Mann Otto Graf Lambsdorff bewogen, Schily Recht zu geben und vor Selbstgerechtigkeit derjenigen zu warnen, die per Befehl zur Exekution wehrloser Zivilst*innen gezwungen wurden. Er sei zu Kriegsende „Angehöriger der Wehrmacht gewesen“ und habe sich in den vergangenen Jahren oft gefragt: „Wie hättest Du wohl als 18-Jähriger reagiert, wenn Dir ein solcher Befehl erteilt worden wäre? Eine Antwort auf diese Frage habe ich nie gewagt.“
Christa Nickels, Abgeordnete der Grünen, bekannte, sie habe sich nie getraut, ihren verstorbenen Vater – „jeder, der mich kennt, weiß, wie sehr ich ihn liebe“ – zu fragen, was er als SS-Mann im Krieg getan habe. Sie habe ein Foto von ihm in Erinnerung, auf dem er eine schwarze Uniform mit Totenköpfen trage. Sie habe ihren Vater nie zu dieser Vergangenheit gefragt. „Es fiel mir unendlich schwer. Ich habe es nicht übers Herz gebracht. Ich konnte es nicht.“
Ausstellung wurde in mehr als 30 Städten gezeigt
Die Debatte dauerte eine Stunde. Die Gräben zwischen Befürworter*innen und Gegner*innen der Wehrmachtsausstellung wurden nicht verschüttet. Aber vielen wird es ergangen sein wie dem Sozialdemokraten Freimut Duwe, der in einer Kurzintervention die Stimmung mit den Worten wiedergab: „Uns alle wird der Krieg bis zu unserem Tod nicht verlassen.“
Die Wehrmachtsausstellung zog von 1995 bis 2004 mehr als eine Million Besucher*innen an, sie wurde in mehr als 30 Städten in der Bundesrepublik und in Österreich gezeigt. Ihr Ziel: die Verbrechen der Hitler-Armee im Zweiten Weltkrieg zu schildern und die über Jahrzehnte erzählte Geschichte von der „sauberen Wehrmacht“ zu korrigieren.
arbeitete in den 1980er und 1990er Jahren frei für den „Vorwärts". Danach war er Parlamentskorrespondent, Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und des Verteidigungsministeriums.