Reichstagswahl 1890: Als der Aufstieg der SPD begann
Friedrich Engels ist ganz aus dem Häuschen. „Wir befinden uns in einem ständigen Siegestaumel“, schreibt er am 26. Februar 1890 an Laura, die zweite Tochter von Karl Marx. 1.341.500 Stimmen habe die SAP bei der Reichstagswahl sechs Tage zuvor erhalten, 587.000 mehr als bei der Wahl drei Jahre zuvor. „Der 20. Februar 1890 ist der Tag des Beginns der deutschen Revolution“, prophezeit Engels in seinem Brief.
Nachwirkungen des Sozialistengesetzes
Damit soll er zwar falsch liegen, doch für die SAP, die sich im Jahr darauf in SPD umbenannte, markiert der 20. Februar 1890 einen Wendepunkt. Erstmals erringen die Sozialdemokrat*innen mit 19,7 Prozent die meisten Stimmen bei einer Reichstagswahl. Das ist umso bemerkenswerter, weil das sogenannte Sozialistengesetz erst wenige Wochen zuvor ausgelaufen war. Im Reichstag war die Verlängerung des seit 1878 geltenden Gesetzes gescheitert. Die Atmosphäre von Verfolgung und Unterdrückung wirkt aber nach.
Trotz ihres Wahlerfolgs stellt die SAP im neuen Reichstag nur 35 der insgesamt 391 Abgeordneten, ein Anteil von knapp neun Prozent: Das Mehrheitswahlrecht des Kaiserreiches macht es möglich. In den Reichstag kommt, wer seinen Wahlkreis direkt erringt, egal mit wie vielen Stimmen. So liegen Kandidaten der SAP zwar in den Städten zum Teil sehr deutlich vor ihren Konkurrenten. Andere Parteien gewinnen aber auf dem Land mit deutlich weniger Stimmen Reichstagssitze. In Stichwahlen sprechen sich zudem Kandidaten unterschiedlicher Parteien ab, um die der SAP zu verhindern.
1912 wird die SPD stärkste Fraktion im Reichstag
Und doch ist der Aufstieg der Sozialdemokratie zur mächtigsten Partei im Deutschen Kaiserreich nach der Wahl vom 20. Februar 1890 nicht mehr aufzuhalten. 1912 löst die SPD mit 34,9 Prozent und 110 Abgeordneten das Zentrum als stärkste Fraktion im Reichstag ab. Und nach der Novemberrevolution 1918 stellt sie mit Friedrich Ebert den ersten Präsidenten der neuen Republik.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.