Parteigeschichte

Vor 130 Jahren: Der neue Kurs der SPD im Erfurter Programm von 1891

Thomas Horsmann21. Oktober 2021
Parteiaufruf: Schmuckblatt der SPD-Maifest-Zeitung zur Kaiserzeit
Parteiaufruf: Schmuckblatt der SPD-Maifest-Zeitung zur Kaiserzeit
Vor 130 Jahren, am 21. Oktober 1891, beschließt die SPD im Erfurter Kaisersaal ein neues Grundsatzprogramm. Es wird auf ­Jahrzehnte ihren Kurs zwischen ­Marxismus und Realpolitik bestimmen.

Der traditionsreiche Kaisersaal in Erfurt ist üppig geschmückt. An den Wänden hängen rote Fahnen, rote Schilder mit sozialdemokratischen Sinnsprüchen und Em-blemen sind im Saal verteilt, von der oberen Empore hängt ein riesiges rotes Banner herab. Der Vorstandstisch ist mit einem roten Tuch bedeckt, über der Bühne steht „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“ und „Die Arbeiter sind der Fels, auf dem die Kirche der Zukunft aufgebaut werden soll!“ Gegenüber der Bühne stehen die Büsten von Karl Marx und Ferdinand Lassalle. Es ist der 14. Oktober 1891, die SPD hat zum Parteitag in ihre Hochburg Erfurt geladen.

Die Reichsregierung mißtraut der SPD

235 Delegierte, fast alle 35 Mitglieder der Reichstagsfraktion, viele Gewerkschaftsvorstände und die neugewählten SPD-Landtagsabgeordneten aus Baden und Sachsen sowie August Bebel und Wilhelm Liebknecht sind zwischen 18 und 19 Uhr im Saal eingetroffen.

An der Versammlung nimmt auch ein von den Behörden entsandter uniformierter Polizeikommissar teil, der von zwei Stenographen begleitet wird. Die Regierung ist noch immer misstrauisch, obwohl die SPD ein Jahr nach Abschaffung des Sozialistengesetzes wieder legal als Partei tätig ist. Seither hat die Partei erneut eine schlagkräftige Struktur aufgebaut.

Volle sieben Tage für die Beratungen

Um 19.10 Uhr eröffnet der SPD-Vorsitzende Paul Singer den Parteitag und übernimmt dessen Leitung. In seiner Eröffnungsrede kündigt er an, der Parteitag werde sich mit einem neuen Parteiprogramm beschäftigen, „welches wissenschaftlich unanfechtbar unsere Forderungen in klarer und allgemein verständlicher Form zum Ausdruck bringt“. Volle sieben Tage sind für die Beratungen geplant, die klären sollen, wohin der Weg der Sozialdemokratie führt. Revolution oder Reformen, Marxismus oder Realpolitik, das sind die Pole zwischen denen sich die Vorstellungen der Mitglieder bewegen.

Zu Beginn des Parteitages werden vier Programmentwürfe eingereicht, da-runter einer vom Parteivorstand. Eine 21-köpfige Programmkommission unter Leitung von Wilhelm Liebknecht prüft die Vorschläge und kommt zu dem Schluss, dass die Entwürfe von Karl Kauts-ky und Eduard Bernstein den grundsätzlichen Zielen der Partei entsprechen. Aus diesen beiden Entwürfen formt die Programmkommission das Erfurter Programm, das nach kleinen Änderungen mit großer Mehrheit vom Parteitag am 21. Oktober 1891 angenommen wird.

Wieder mehr Marxismus im Parteiprogramm

Mit diesem neuen Programm neigt sich die SPD wieder mehr dem Marxismus zu, nachdem zuvor im Gothaer Programm die Realpolitik eine stärkere Rolle gespielt hatte. Kautsky, der den ersten, theoretischen Teil verfasst, folgt Marx und geht von einer Zuspitzung des Klassenkampfes „zwischen Bourgeoise und Proletariat“ aus. Er fordert wie Marx die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Im zweiten Teil, der auf Bernsteins Entwurf beruht, fordert die SPD unter anderem das allgemeine, gleiche direkte Wahlrecht, die Gleichstellung der Frau, den Achtstundentag, Arbeitsschutz, Verbot von Kinderarbeit und Religionsfreiheit.

Der heftige Konflikt innerhalb der Partei zwischen Marxismus und Realpolitik bestimmt die Geschichte der SPD bis in die 1950er Jahre, erst mit dem -Godesberger Programm 1959 verabschiedet sich die Partei vom Marxismus.  

Auf dem Erfurter Parteitag von 1891, der diesen Konflikt bemerkenswert wenig diskutiert, kommt es zum Eklat mit der Oppositionsgruppe „Die Jungen“. Diese vermisst eine kritische Haltung gegenüber dem Parlamentarismus und kritisiert den Reformismus, der nur Rücksicht auf das Bürgertum nehme. Gleichzeitig vermischen „Die Jungen“ ihre Kritik mit persönlichen Angriffen gegen die Parteitagsmehrheit um Bebel. Schließlich werden „Die Jungen“ aus der Partei ausgeschlossen. Sie schließen sich im Verein Unabhängiger Sozialisten zusammen und werden Anarchisten.

weiterführender Artikel

Kommentare

SPD und Marxismus

" [...] erst mit dem -Godesberger Programm 1959 verabschiedet sich die Partei vom Marxismus."

Ja, formal. Inhaltlich hatte man den da schon längst hinter sich gelassen. Hat die SPD gegen die Kriegskredite für den ersten Weltkrieg gestimmt? Hat die SPD in der entstehenden Weimarer Republik die Produktionsmittel vergesellschaftet? Hat die SPD gegen Ende der Weimarer Republik für die Aufhebung der brüning'schen Notverordnungen gestimmt, die das Land plagten? Hätte man das getan, hätte man vielleicht sogar bei Neuwahlen eine linke Mehrheit zustande gekriegt und Hitler verhindern können! Hat man aber nicht!

Die SPD hat sich in ihrer Geschichte immer wieder als genauso inkompetent, unbrauchbar und marktradikal erwiesen wie aktuell die Demokraten in den USA. Eine reine Aristokratenbande, da könnte man auch gleich das Original (CDU/CSU) wählen. Oder AfD. Dann erreichen wir den Boden der Krise (wir sind von Krisen umzingelt!!!) schneller und vielleicht wacht dann mal jemand auf. (Und nein, ich würde nichts in dieser Richtung wählen)

Marxismus

Nach wie vor halte ich die analytischen Instrumente, die uns Marx und Engels hinterlassen haben um die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse zu durchschauen, für mehr als nützlich. Wenn sich heute eine offizinöse SPD brüstet sich vom Marxismus abgewandt zu haben, so ist das schlichtweg unsinnig. Wir sollten Marxismus nicht mit der stalinschen Pseudoreligion ML verwechseln, wobei ich aber Lenins Beiträge zur innersozialdemokratischen Diskussion nicht missen möchte.
Manche Inhalte sind trotz aller SPD Wortglaubereien ja doch gleich geblieben: Sagten Sozialdemokraten früher: Die Diktatur des Proletariats gegen die Diktatur der Bourgeoisie, so heißt das heute: Priorität der Politik statt Priorität der Wirtschaft.
Es geht nicht darum sich besonders radikal auszudrücken, aber es geht darum radikale Politik zum Nutzen und Frommen der abhängig Beschäftigten zu machen.

Bernstein - Kautzky

Soweit mir bisher bekannt ist haben Eduard Bernstein und Karl Kautzky das Erfurter Programm gemeinsam entwickelt. (Ich lasse mich da gerne eines Besseren belehren, wenn da jemand mehr als mein Schulbuchwissen hat). Der theoretische Gegensatz zwischen dem "Orthodoxen" und dem "Revisionisten" trat erst ca. 10 Jahre später zutage.
15 Jahre später standen sie geminsdam mit anderen aufrichtigen Genossen und Genossinnen gegen die Kriegsbefürworter und Ignoranten der Parteiprogramms (Ebert Co.) in der SPD.
Geschichte sollte nicht von hinten, also von gewünschten Ergebnis her, geschrieben werden.

Bernstein - Kautzky

Es trifft zu, dass Eduard Bernstein und Karl Kautsky, zwei unterschiedliche Charaktere, das Erfurter Programm entworfen haben. Es war neben dem Heidelberger Programm das beste, das die SPD jemals hatte. Dass es heute 130 Jahre alt wird, ist für mich ein schönes Geburtstagsgeschenk.

Das 125-jährige Jubiläum durfte ich im Erfuter Kaisersaal, wo es beschlossen wurde, mitfeiern.

Wir können uns gerne über das Programm unterhalten.

Programm

Auch das Berliner Programm von 1989 kann man in diese Reihe stellen.
Leider gab und gibt es in der SPD immer wieder Funktionäre, die sich unter dem Beifall des Klassenfeindes, nicht an das Parteiprogramm halten.