
Der traditionsreiche Kaisersaal in Erfurt ist üppig geschmückt. An den Wänden hängen rote Fahnen, rote Schilder mit sozialdemokratischen Sinnsprüchen und Em-blemen sind im Saal verteilt, von der oberen Empore hängt ein riesiges rotes Banner herab. Der Vorstandstisch ist mit einem roten Tuch bedeckt, über der Bühne steht „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“ und „Die Arbeiter sind der Fels, auf dem die Kirche der Zukunft aufgebaut werden soll!“ Gegenüber der Bühne stehen die Büsten von Karl Marx und Ferdinand Lassalle. Es ist der 14. Oktober 1891, die SPD hat zum Parteitag in ihre Hochburg Erfurt geladen.
Die Reichsregierung mißtraut der SPD
235 Delegierte, fast alle 35 Mitglieder der Reichstagsfraktion, viele Gewerkschaftsvorstände und die neugewählten SPD-Landtagsabgeordneten aus Baden und Sachsen sowie August Bebel und Wilhelm Liebknecht sind zwischen 18 und 19 Uhr im Saal eingetroffen.
An der Versammlung nimmt auch ein von den Behörden entsandter uniformierter Polizeikommissar teil, der von zwei Stenographen begleitet wird. Die Regierung ist noch immer misstrauisch, obwohl die SPD ein Jahr nach Abschaffung des Sozialistengesetzes wieder legal als Partei tätig ist. Seither hat die Partei erneut eine schlagkräftige Struktur aufgebaut.
Volle sieben Tage für die Beratungen
Um 19.10 Uhr eröffnet der SPD-Vorsitzende Paul Singer den Parteitag und übernimmt dessen Leitung. In seiner Eröffnungsrede kündigt er an, der Parteitag werde sich mit einem neuen Parteiprogramm beschäftigen, „welches wissenschaftlich unanfechtbar unsere Forderungen in klarer und allgemein verständlicher Form zum Ausdruck bringt“. Volle sieben Tage sind für die Beratungen geplant, die klären sollen, wohin der Weg der Sozialdemokratie führt. Revolution oder Reformen, Marxismus oder Realpolitik, das sind die Pole zwischen denen sich die Vorstellungen der Mitglieder bewegen.
Zu Beginn des Parteitages werden vier Programmentwürfe eingereicht, da-runter einer vom Parteivorstand. Eine 21-köpfige Programmkommission unter Leitung von Wilhelm Liebknecht prüft die Vorschläge und kommt zu dem Schluss, dass die Entwürfe von Karl Kauts-ky und Eduard Bernstein den grundsätzlichen Zielen der Partei entsprechen. Aus diesen beiden Entwürfen formt die Programmkommission das Erfurter Programm, das nach kleinen Änderungen mit großer Mehrheit vom Parteitag am 21. Oktober 1891 angenommen wird.
Wieder mehr Marxismus im Parteiprogramm
Mit diesem neuen Programm neigt sich die SPD wieder mehr dem Marxismus zu, nachdem zuvor im Gothaer Programm die Realpolitik eine stärkere Rolle gespielt hatte. Kautsky, der den ersten, theoretischen Teil verfasst, folgt Marx und geht von einer Zuspitzung des Klassenkampfes „zwischen Bourgeoise und Proletariat“ aus. Er fordert wie Marx die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Im zweiten Teil, der auf Bernsteins Entwurf beruht, fordert die SPD unter anderem das allgemeine, gleiche direkte Wahlrecht, die Gleichstellung der Frau, den Achtstundentag, Arbeitsschutz, Verbot von Kinderarbeit und Religionsfreiheit.
Der heftige Konflikt innerhalb der Partei zwischen Marxismus und Realpolitik bestimmt die Geschichte der SPD bis in die 1950er Jahre, erst mit dem -Godesberger Programm 1959 verabschiedet sich die Partei vom Marxismus.
Auf dem Erfurter Parteitag von 1891, der diesen Konflikt bemerkenswert wenig diskutiert, kommt es zum Eklat mit der Oppositionsgruppe „Die Jungen“. Diese vermisst eine kritische Haltung gegenüber dem Parlamentarismus und kritisiert den Reformismus, der nur Rücksicht auf das Bürgertum nehme. Gleichzeitig vermischen „Die Jungen“ ihre Kritik mit persönlichen Angriffen gegen die Parteitagsmehrheit um Bebel. Schließlich werden „Die Jungen“ aus der Partei ausgeschlossen. Sie schließen sich im Verein Unabhängiger Sozialisten zusammen und werden Anarchisten.