Jetzt online nachzulesen: Der Vorwärts in der Weimarer Republik
Journalisten der Print-Medien von heute könnten neidisch werden: Es gab einmal eine Zeit ohne Konkurrenz durch Radio, Fernsehen oder gar Internet. Wer sich informieren wollte, musste Zeitungen lesen. Und die erschienen zumindest in den großen Städten oft zweimal am Tag, bei besonderen Ereignissen im Straßenverkauf sogar dreimal.
Der Vorwärts und die Standpunkte der SPD
Seit dem 4. April um 10 Uhr, sind viele Jahrgänge des Vorwärts aus diesen spannenden und politisch aufwühlenden Zeiten im Netz verfügbar. Zunächst sind die Jahrgänge 1918 – 1920 und 1924 – 1933 abrufbar, im Laufe dieses Jahres dann sämtliche Ausgaben seit der Gründung am 1. Oktober 1876.
Bisher gibt es durchgehend digitalisierte Ausgaben aus jenen Jahrzehnten nur von der „Vossischen Zeitung“. Das heisst: Wissenschaftler, Studenten, Geschichts- und Politiklehrer und jeder an Zeitgeschichte interessierte Leser waren allein angewiesen auf die bürgerlich-liberale Presse. Die Standpunkte der Sozialdemokratie, die oft erbitterten Auseinandersetzungen über den richtigen politischen Kurs, wie er sich vor allem in der eigenen Tagespresse spiegelte, fehlten.
Das Leitmedium der Weimarer Republik
Ohne Übertreibung lässt sich sagen: Der Vorwärts war während dieser politisch so spannenden Zeiten ein Leitmedium der jungen Republik. Die Zeitung war vor allem während der Weimarer Republik mit einer Auflage von bis zu 300.000 Ausgaben pro Tag gleichzeitig Parteipresse und meinungsfreudiges Massenprodukt, auch dann, wenn es wieder einmal gegen Teile der eigenen Genossen ging. Die politischen Wirren, die unterschiedlichen Meinungen spiegelten sich immer auch im Vorwärts wieder.
Zum Beispiel als es im August 1914 um die Bewilligung von Kriegskrediten ging. Die SPD, die nichts so fürchtete wie den ständig wiederholten Vorwurf der „vaterlandslosen Gesellen“, zerriss das, führte 1917 zur Gründung der pazifistischen USPD. Kurz zuvor war die gesamte Vorwärts-Redaktion wegen ihrer Haltung zu Krieg und Kriegsanleihen gefeuert worden.
Meinungsstark, pointiert, unbequem
Immer wieder, auch in der Kaiserzeit, war der Vorwärts ein mutiges Blatt, meinungsstark, scharf pointiert, selten auf der politisch bequemen Seite. Das zeigte sich zum Beispiel 1904 bei der Berichterstattung über den Herero-Aufstand, ein bis in die jüngste Vergangenheit politisch brisantes Thema. Der Vorwärts stand auf der sachlich und politisch richtigen Seite, nämlich auf der der Hereros. Am 24. April 1904 beklagt die Redaktion auf der Seite 1: „ Dafür sind wir in der reaktionären Presse nicht nur, sondern sogar in den liberalen Witzblättern als vaterlandsloses Gesindel und Kannibalen verhöhnt worden.“
Dies alles – und vieles mehr – nachzulesen in einer linken Tageszeitung und nicht in abwägenden wissenschaftlichen Publikationen mit dem Blick von heute ist faszinierend.
Kulturelle Glanzlichter und ein Ausrutscher
Genauso aufschlussreich aber sind nicht nur die politischen ersten Seiten, sondern ebenso der Kulturteil, die regelmäßig erscheinenden Frauenseiten, ja sogar die Anzeigen. Und da stößt man auf verblüffendes: Am 21. März 1919 gab es eine auffallende, riesige Anzeige unter der balkendicken Überschrift „Freiwillige vor!“, in der für den Eintritt bei den Freikorps in Berlin und Umgebung geworben wurde!
Ein peinlicher Ausrutscher in einer sonst so politisch klaren, linken Zeitung, in der die besten Schriftsteller ihrer Zeit veröffentlicht wurden. Kurt Tucholsky schrieb dort und und Joseph Roth. Die Texte von B. Traven wurden ebenso als Fortsetzungsromane veröffentlicht wie beispielsweise Jack Londons „Wolfsblut“ oder ein Krimi von Edgar Wallace. Wie wichtig auch diese Seite des Vorwärts war, ist heute schwer nachvollziehbar. Aber Bücher waren für den normalen Arbeiterhaushalt damals unerschwinglich.
Über 140 Jahre deutsche Geschichte
Am 1. Oktober 1876 begann die lange, nun 140jährige Geschichte des Vorwärts mit folgenden Sätzen auf der ersten Seite der ersten Ausgabe: „Mit dem 1. Oktober haben laut Congressbeschluss unsere bisherigen zwei offiziellen Parteiorgane 'Volksstaat' und 'Neuer Sozialdemokrat' zu erscheinen aufgehört und ist an ihre Stelle als einziges offizielles Parteiorgan getreten der 'Vorwärts', Centralorgan der Sozialdemokratie.“
Die für viele Jahre letzte Ausgabe erschien am 28. Februar 1933 mit einem nüchternen Bericht über den Reichstagsbrand. Die Redakteure wussten da noch nicht, dass sie am letzten Vorwärts arbeiteten. Die Nazis nutzten die Gunst der Stunde. Die Redaktion wurde verwüstet, die Redakteure flohen, einige trafen sich wieder in der Emigration.
200.000 Seiten gescannt
Dies alles ist nun bequem nachzulesen im Internet. Es ist Zeitgeschichte aus sozialdemokratischer Sicht - und eine Mammutaufgabe, die von der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung geleistet wird. Der Vorwärts zwischen dem 1. Oktober 1876 und dem Verbot nach dem Reichstagsbrand am 28. Februar 1933 umfasst rund 200.000 Seiten auf inzwischen brüchigem, vergilbtem Papier, das man kaum anzufassen wagt. Seit Anfang 2015 arbeiten Olaf Guercke und weitere Mitarbeiter an diesem Projekt. Täglich werden im Durchschnitt 500 Seiten gescannt. Nicht nur gescannt, sondern auch gelesen! Bibliothekar Guercke hat seinen Lieblingstext gefunden: „Quälgeister in Bibliotheken“ vom 3. August 1930.
(† 2023) war freie Journalistin in Bonn und Erhard-Eppler-Biografin.