Geschichte

Ernst Reuter: Vom Kommunisten zum Verteidiger der freien Welt

Er lebte in Russland und der Türkei. Als „Antikommunist“ legte er sich mit den Russen an. Zur Legende machte Ernst Reuter eine Rede vor 300.000 Menschen im September 1948.
von Lothar Pollähne · 29. September 2023
Ein Weltenbummler als Regierender Bürgermeister: Ernst Reuter 1953
Ein Weltenbummler als Regierender Bürgermeister: Ernst Reuter 1953

Am 22. Januar 1922 tagt in Berlin der Zentralausschuss der KPD. Der Cheftheoretiker der Partei, August Thalheimer, referiert über den Zentralismus als Kern der kommunistischen Tagespolitik. Der Genosse „Friesland“ hält dagegen und liest den Mitgliedern des Zentralausschusses die Leviten: „Bei uns in Deutschland werden die Arbeitermassen nicht auf Kommando eines Zentralkomitees kämpfen, denn sie haben eine lange geschichtliche Schulung und eine lange geschichtliche Vergangenheit.“ Einen Tag später wird der Genosse „Friesland“ aus der KPD ausgeschlossen.

In Paul Levis Zeitung „Unser Weg“ schreibt er am 15. Februar unter dem Titel „Finale“ seinen Abgesang auf die Partei, die er nicht als „Führerin“ sondern als „Hemmschuh proletarischer Entwicklung“ sieht: „Die unentwegte ‚Vorhut‘ wird zur Nachhut, die kläffend hinter dem Wagen der Arbeiterbewegung herbellt und regelmäßig immer hinter den Parolen der anderen hinterherläuft.“ Gezeichnet ist der Artikel mit dem Klarnamen des Autors: Ernst Reuter. Den Genossen „Friesland“ gibt es nicht mehr.

Die Mutter treibt ihn zu Höchstleistungen an

Ernst Reuter, obwohl am 29. Juli 1889 im damals nordschleswigschen Apenrade geboren, gilt zu Recht als „Friese“. Sein Vater Wilhelm, ein ehemaliger Kapitän, wird 1892 nach Leer versetzt, wo er Leiter der Steuermannsklasse an der Navigationsschule wird. Reuters Kindheit und Jugend sind geprägt vom strengen, pflichtbewusst puritanischen Regiment der Mutter Karoline, die ihren Sohn stetig zu Höchstleistungen antreibt. Da die Familie Reuter zwar zum Bürgertum gehört, aber nicht zum alteingesessenen, ist sie in Leer isoliert. Das überträgt sich auch auf die Kinder. Mitschüler bescheinigen Ernst Reuter eine „unkindliche Würde“ und die Neigung, mit seinen Gedanken in sich zu ruhen.

Nach dem Abitur geht Ernst Reuter im Sommersemester 1907 zum Studium nach Marburg. Dort fühlt er sich befreit von den Fesseln der Schule und des Elternhauses. Er studiert die „Brotfächer“ Germanistik, Geschichte und Geographie; sein Hauptaugenmerk gilt jedoch der klassischen Philosophie. Die liberale Universität Marburg gilt Anfang des 20. Jahrhunderts als Zentrum des Neukantianismus, dessen Protagonisten der linksliberale Paul Natorp und der „Patriarch“ dieser philosophischen Richtung, Hermann Cohen, sind.

Er vor allem beeinflusst Ernst Reuter so stark, dass er ihn noch Jahrzehnte später als den Mann ansieht, „dem ich von allen lebenden Deutschen am meisten in meiner geistigen Entwicklung verdanke“. Cohen verbindet die Gedanken des Christentums mit den Gedanken der biblischen Propheten und der griechischen Philosophie und schafft für Ernst Reuter ein Gedankengebäude, das ihm bis zu seinem Tod eine Heimstatt ist.

Auf dem Pfad des Sozialismus

Ebenso prägend wie Hermann Cohen wirkt der „Kathedersozialist“ Lujo Brentano, der als sozialreformerischer Nationalökonom in München lehrt. Ernst Reuter ist zu Beginn seines dritten Studienjahrs in die bayrische Metropole gezogen, nachdem er sich in Marburg mit seiner Verbindung „Frankonia“ überworfen hatte. Lujo Brentano leitet den jungen Reuter auf den Pfad des Sozialismus und bringt ihm die Schriften von Karl Marx und Eduard Bernstein nahe.

1910 kehrt Ernst Reuter als „überzeugter Sozialist“ nach Marburg zurück. Nach dem Examen im Juli 1912 muss er sich entscheiden, ob er als Lehrer in den Staatsdienst eintritt oder seine Zukunft als Parteiarbeiter in der SPD sieht. Ein kurzes Intermezzo als Hauslehrer in Bielefeld endet wegen Reuters sozialdemokratischen Neigungen mit dem Rauswurf. Auf Empfehlung des nachmaligen Reichsinnenministers Carl Severing kommt Ernst Reuter Ende 1912 nach Berlin und wird als „sozialistischer Wanderprediger“ für den „Zentral-Bildungsausschuss der SPD“ tätig.

Ein sozialdemokratischer Bolschewik

Mit Beginn des Weltkrieges stellt sich Ernst Reuter auf die Seite der Parteiopposition und wird Mitgründer des pazifistischen Bundes „Neues Vaterland“. Das zieht die Überwachung durch wilhelminische Geheimdienste nach sich. Anfang 1916 wird Reuter zum Kriegsdienst eingezogen. Im Juli des Jahres wird er schwer verwundet und gerät in russische Gefangenschaft. In dieser Zeit lernt Ernst Reuter die russische Sprache. Die Oktoberrevolution wird für ihn zum Wendepunkt. Reuter wird sozialdemokratischer Bolschewik. Im April 1918 ernennen Lenin und Stalin den jungen Genossen zum Kommissar der Wolgadeutschen Republik, die er erfolgreich im Sinne der Auftraggeber konsolidiert.

Nach der „Novemberrevolution“ kehrt Ernst Reuter, versehen mit einem Empfehlungsschreiben Lenins an Clara Zetkin, nach Deutschland zurück. „Der junge Reuter ist ein brillanter und klarer Kopf, aber ein wenig zu unabhängig“ urteilt Lenin. Reuters Aufstieg in der KPD schadet diese Einschätzung zunächst nicht. Er wird Sekretär für Berlin und Brandenburg und nach den gescheiterten „März-Aufständen“, die er zunächst befürwortet hatte und nach Unterredungen mit Lenin schließlich ablehnt, im August 1921 zum Generalsekretär der KPD ernannt. Reuters Beharren auf personellen Konsequenzen im KPD-Vorstand führen erst zu seiner Entmachtung und im Januar 1922 zum Parteiausschluss.

Redakteur des „Vorwärts“ und Oberbürgermeister

Über die bereits kriselnde USPD kehrt Ernst Reuter nach dem Vereinigungsparteitag in Nürnberg Ende September 1922 in die SPD zurück und wird Redakteur des „Vorwärts“. Dort kann er sich weiterhin am Kommunismus der KPD abarbeiten, die er als Wurmfortsatz des Sowjet-Imperialismus betrachtet. Hauptsächlich jedoch widmet sich Reuter kommunalpolitischen Themen. Vor allem in der Verkehrspolitik hat er sich als Berliner Stadtverordneter seit 1921 einen Namen gemacht. Folgerichtig wird er 1926 auf Vorschlag der SPD zum Stadtrat für das Verkehrswesen in Berlin gewählt. In seine Dienstzeit fällt die Kommunalisierung privater Verkehrsbetriebe und die Einbindung der S-Bahn in das städtische Verkehrskonzept.

Auf Vorschlag von Otto Wels wählt die Magdeburger Stadtverordnetenversammlung Ernst Reuter am 29. April 1931 zum Oberbürgermeister. Es gelingt ihm, das durch die Weltwirtschaftskrise gebeutelte Magdeburg mit strikten Sparmaßnahmen und Hilfsprogrammen zu konsolidieren. 1932 erringt Ernst Reuter ein Reichstagsmandat. Am 11. August 1933 verschleppen die Nazis den „Staatsfeind“ Ernst Reuter zum ersten Mal ins KZ Lichtenburg bei Torgau und foltern ihn. Die zweite Inhaftierung wird nach einer Intervention britischer Politiker im September 1934 beendet.

Bald darauf geht Ernst Reuter nach England, das für ihn zum Sprungbrett in den nächsten Karriereabschnitt wird. Ende Mai 1935 macht er sich auf den Weg nach Ankara, wo er als Fachmann für das Tarifwesen im türkischen Wirtschaftsministerium tätig wird. Von 1941 bis zum Ende des Krieges arbeitet Reuter als Professor für Kommunalwissenschaft. Politisch bleibt er im „Wartesaal Ankara“ abstinent.

Die Berlin-Blockade macht ihn zur Legende

Auf Wirken der Briten kann Ernst Reuter im April 1946 endlich nach Deutschland zurückkehren. Die Berliner SPD-Spitze überzeugt ihn, als Stadtrat für Verkehr und Versorgungsbetriebe in den Magistrat einzutreten. Seine erste Herausforderung erlebt er im „Hungerwinter 1946/47“. Reuter soll nach Alliierten Vorgaben den knappen Strom kontingentieren, was er jedoch aus Rücksicht auf die Bevölkerung nur schleppend erledigt. Das verschafft ihm Respekt in der Viersektorenstadt, für die er sich auch weiterhin mit den Alliierten anlegt. Am 24. Juni 1947 wählt die Berliner Stadtverordnetenversammlung Ernst Reuter zum Oberbürgermeister. Sein Amt darf er jedoch nicht antreten, weil die Russen ihr Veto gegen den „Antikommunisten“ Reuter einlegen. Statt seiner übernimmt Louise Schröder die Amtsgeschäfte.

Mit dem Beginn der Berlin-Blockade am 24. Juni 1948 wird Ernst Reuter zur Legende. Er überzeugt die US-Amerikaner, ihre Pläne für eine Luftbrücke in die Tat umzusetzen und beschwört die Menschen in der Stadt, sich nicht dem sowjetischen Herrschaftsanspruch zu beugen. In der Manier eines Volkstribuns spricht Reuter mit heiserer Stimme am 9. September 1948 vor 300.000 Menschen und appelliert: „ Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, daß ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt!“

„Leidenschaft, sich für andere zu verschwenden“

Als die Spaltung der Stadt nicht mehr zu verhindern ist und Friedrich Ebert jun. im Ostsektor zum Oberbürgermeister gewählt wird, wählen die Menschen in den Westsektoren am 5. Dezember 1948 eine separate Stadtverordnetenversammlung, und Ernst Reuters SPD gelingt mit 64,5 Prozent ein überragender Sieg. Zwei Tage später wird Reuter einstimmig zum Oberbürgermeister gewählt. Dieses Amt behält er — ab dem 1. September 1950 als „Regierender Bürgermeister“ — bis zu seinem Tod am 29. September 1953.

Als Ernst Reuter am 3. Oktober zu Grabe tragen wird, stehen mehr als eine Million Menschen an den Straßen und weinen. Bundespräsident Theodor Heuss spricht den Menschen aus den Herzen und erklärt in seiner Trauerrede: „Der Anlass dieser Fahrt hat mich vor diesen toten Mann geführt; die tragische Pflicht des vaterländischen Dankes in diese Stadt, auf diesen Platz, vor diesen Sarg. Dank für die Leistung eines Lebens, das seine Bekrönung und Erfüllung einer sachlichen Leidenschaft darin fand, sich für andere, sich für das Allgemeine zu verschwenden.“

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