Geschichte

September 1948: Wie Ernst Reuter Berlin eine Stimme gab

Am 9. September 1948 hält Ernst Reuter die wohl berühmteste Rede der deutschen Nachkriegsgeschichte vor dem zerstörten Berliner Reichstag – gegen die sowjetische Blockade. Die Rede bleibt nicht ohne Folgen.
von Thomas Horsmann · 7. September 2018
Ernst Reuter während seiner Rede am 9. September 1948.
Ernst Reuter während seiner Rede am 9. September 1948.

Der Kalte Krieg hat einen neuen Höhepunkt erreicht: Als Reak­tion auf die Währungsreform in Westdeutschland und West-Berlin am 20. Juni 1948, verhängen die ­Sowjets nur vier Tage später über den Westteil Berlins eine Blockade zu Lande und zu Wasser.

Doch West-Berlin wehrt sich. Am 9. September 1948 haben sich vor dem zerstörten Reichstag mehr als 300.000 Menschen versammelt. Sie wollen Ernst Reuter hören, den gewählten Oberbürgermeister von ganz Berlin, der von den Sowjets aber nicht anerkannt wird und deshalb nur in West-Berlin amtieren kann. Der Mann, der wie kein anderer für den Widerstand Westberlins gegen die Blockade durch die Sowjets steht. Der Mann, der die Amerikaner zur Luftbrücke drängt, die zum ersten Mal in der Geschichte eine Millionenstadt aus der Luft versorgt. Der Mann, der den Freiheitswillen der Berliner stärkt und die Stadt den Sowjets nicht preisgeben will.

Doch bevor Reuter ans Mikrofon tritt, redet Berlins SPD-Chef Franz Neumann, der der Opfer des politischen Widerstands gedenkt. Denn die Sowjets hatten seit 1945 zahlreiche Gegner der KPD und später der SED verschleppt, darunter viele treue Genossen, die noch nicht wieder aufgetaucht sind.

Widerstand gegen Moskau

Als Ernst Reuter ans Rednerpult tritt, verstummt die riesige Menschenmenge. Schnell kommt er auf den Punkt, der zu dieser Großdemonstration geführt hat: die Vertreibung des gewählten Magistrats und des Stadtparlaments aus dem Osten der Stadt. Denn die SED ist im Stadtparlament in der Minderheit. Bei den Wahlen 1947 hat sie nur 19,8 Prozent der Stimmen erhalten. Seither behindert sie mit Unterstützung der Sowjets die Arbeit der gewählten Organe mit allen Mitteln. Die Versammlungen werden so massiv gestört, dass sie schließlich in den Westen der Stadt verlegt werden, wo sie besser geschütztsind.

„Wir kommen wieder!”, ruft Reuter der Menge zu: „Wir kommen wieder in den Ostsektor Berlins, wir kommen auch wieder in die Ostzone Deutschlands!“ Doch in diesem Moment sieht die Lage nicht danach aus. Denn die Alliierten verhandeln über das Schicksal Berlins. Eskaliert die Lage? Verteidigt der Westen die Freiheit der Berliner? Reuter greift die Verhandlungen auf: „Heute ist der Tag, wo das Volk von Berlin seine Stimme erhebt. Dieses Volk von Berlin ruft heute die ganze Welt.“ Berlin dürfe kein Tauschobjekt in den Verhandlungen der Siegermächte sein. „Uns kann man nicht eintauschen, uns kann man nicht verhandeln, und uns kann man auch nicht verkaufen“, empört sich Reuter. Es sei unmöglich, auf dem Rücken eines solchen tapferen, standhaften Volkes einen faulen Kompromiss zu schließen, verkündet er unter dem Jubel der Berliner. Nach weiteren Angriffen auf die SED und die Sowjets beendet Reuter seine Rede mit einem ­Appell, der um die Welt geht: „Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt!“

SPD-Wahltriumph in Berlin

Schlagartig macht die Rede, die über das Radio übertragen wird, Ernst ­Reuter weltweit bekannt. Er steht für den unbeugsamen Widerstand der Berliner und ist das Symbol des Antikommunismus. Die Unterstützung für die teure Unterhaltung der Luftbrücke wächst bei den Westmächten. Im Mai 1949 ­geben die Sowjets ihre Blockade auf. Der Westen hat den ersten Machtkampf im Kalten Krieg gewonnen.

Zuvor stehen noch Neuwahlen in Berlin an. Sie können nur noch im Westteil der Stadt durchgeführt werden. Am 5. Dezember 1948 kommt die SPD auf 64,5 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 86 Prozent. Am 7. Dezember wird Ernst Reuter einstimmig zum Oberbürgermeister gewählt. Bis zu seinem Tod am 28. September 1953 bleibt er die Stimme der freien Welt aus Berlin.

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Thomas Horsmann

ist freier Journalist und Redakteur.

 

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