Als Willy Brandt den neuen Geschäftsführer der Partei berief, hielten manche Beobachter, aber auch viele Mitglieder der SPD Peter Glotz für eine - allerdings glänzende -Fehlbesetzung.
Womöglich waren es die gleichen, die ihn als Vordenker der SPD nicht wegdenken wollten. Er war einer, dessen rascher Verstand Bewunderung bei Freund und Gegner inner- wie außerhalb der
Sozialdemokratie hervorrief. Einer, der Gegensätze in sich zu vereinigen schien und der wohl auch widerspruchsvoll war. Auf seine Weise hatte er, der sich so gern in der Mitte seiner Parteifreunde
sah, zugleich einen großen Abstand zu ihnen. Was immer er dachte und mit glänzender Formulierungskunst sagte, es führte ihn an die Spitze der Marschkolonne. Manches Mal allerdings so weit voran,
dass die Kolonne ebenso weit zurück blieb.
Er war keiner, dem Stallgeruch entströmte, und keiner, der den Stall warm halten konnte. Nun ist er tot, und die SPD hätte ihn womöglich nötiger denn je. Peter Glotz stand für Aufklärung, und
das braucht Mut. Er war mutig, weil er sich treu blieb, nicht anpasserisch war. Er stritt für Studiengebühren und Eliteuniversitäten. Es gibt sicher gute Argumente, dagegen zu sein. Dennoch war er
davon nicht abzubringen. Und er wusste, wovon er sprach; lange Zeit hat er im Bildungs- und Wissenschaftsbetrieb der Republik verbracht. Auch da weit vor der Kolonne, deren Marschschritt ihm wohl
viel zu langsam war. Ja, er war ungeduldig, ein Charakter-Merkmal, das wenig hilfreich war für den Tanker SPD, der so schwer auf neuen Kurs zu bringen ist. Dennoch hat er es immer wieder versucht.
Dass er die eigene Partei zum Nachdenken herausforderte, nicht nachließ, der SPD Hausaufgaben abzufordern, die nicht mal so eben nebenbei zu bewältigen waren, das unterschied ihn erheblich von dem
Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine. Der war ein zeitweiliger Freund und dann, nach doppelter Flucht, erst aus dem Kabinett und vom Parteivorsitz und dann aus der Sozialdemokratie, ein später
Gegner.
Peter Glotz, dem ich viele gute Gespräche und manch freundschaftlichen Rat verdanke, war Jahrgang 1939. Er wuchs auf in den von Bomben planierten deutschen Ruinenstädten, wie so viele seiner
Generation. Mit den Erinnerungen an Flucht und Vertreibung - er floh 1945 mit seiner Familie von Eger, Sudetenland, nach Eckersdorf in Oberfranken - trugen sie ein Gepäck, das keinen Raum ließ für
naive Vaterlandsliebe. Erst recht nicht in den 50er und 60er Jahren, als der "Kalte Krieg" das Nachdenken über deutsche Schuld an dem Desaster des Nazi-Staates, dem organisierten Völkermord und
Holocaust überdeckte und erst die 68er Jugendrevolte in die öffentliche Befragung der Tätergeneration münden sollte. Bis heute spüren wir das Nachbeben der deutschen Katastrophe und mit der späten
und glücklichen Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten sind wir erneut aufgerufen, den Schaden zu beseitigen, den das Nazi-Regime hinterlassen hat. Peter Glotz war fünf Jahre alt, als
die alliierten Sieger in Potsdam die bedingungslose Kapitulation Deutschlands diktierten, die das Ende der Kampfhandlungen des II. Weltkrieges brachte. Er war ein Intellektueller der ersten
Generation, die zwar unbelastet von eigener Schuld, dennoch den Hass zu ertragen hatte und überwinden musste, den Nazi-Deutschland auf den deutschen Namen geladen hatte.
Er war geschichtsbewusst, und wenn sich seine und damit auch meine Generation etwas vorzuwerfen hat, dann wohl, dass es uns wirklich nicht gelungen zu sein scheint, dieses Bewusstsein für die
eigene Geschichte weiter zu reichen und zum selbstverständlichen Bestandteil staatsbürgerlicher Bildung zu machen. Als Bundesgeschäftsführer der SPD von 1981 bis 1987 sorgte er sich um die
Kampagnenfähigkeit der SPD; um die Qualität der Debatten in der Sozialdemokratie zu verbessern, gründete er Vorfeldorganisationen wie das Kultur- und das Wissenschaftsforum; er regte die Bildung
der Historischen Kommission an. Er war ein Grenzgänger wie er leider noch immer selten ist in Deutschland. Er war es mit Bedacht. Als ausgewiesener Intellektueller verzichtete er auf jegliche
Elfenbeinturm-Attitüde und warf sich mutig in die Schlacht der öffentlichen Meinungsbildung. Hier focht er gerne mit, und wenn es ihm angemessen schien, auch gegen Positionen der eigenen Partei.
Aber immer doch so, dass das Argument zählte und nicht ein Vorurteil.
Er konnte in atemberaubender Schnelligkeit brillant geschriebene Bücher auf den Markt werfen, darunter solche, deren zeitgeschichtlicher Wert beachtlich ist. Immer wieder warnte er die SPD
davor, sich den Fortschrittsbegriff von den Konservativen abjagen zu lassen. Ihn bedrückte die Vorstellung, dass die SPD für das Überkommene und die Konservativen für das Neue stehen könnten. Doch
der homo politicus Peter Glotz verordnete seiner Partei auch den Blick auf die kulturelle Dimension, ohne die ein Gemeinwesen verdorrt. Nicht alle mochten verstehen, dass eine Gesellschaft, die nur
von Kommerz getragen ist, keine Verheißung hat. Das brachte ihn als Berliner Wissenschaftssenator dazu, sich auch auf den Kongressen der außerparlamentarischen Opposition zu bewegen und in Berlin
den Dialog mit der kritischen Studentenbewegung aufzunehmen. Die alternative Subkultur war schon längst bis zu den Jungsozialisten vorgedrungen und mit Abgrenzungsbeschlüssen nicht aufzuhalten. Mit
Glotz war 1977 erstmals ein Politiker aus dem Berliner SPD-Milieu wieder in der Lage, in studentischen Foren zu bestehen. 1991 war er in der historischen Bundestagsdebatte auf der Seite der
Berlin-Gegner und Bonn-Befürworter, als es um die Hauptstadt des vereinigten Deutschlands ging. Und im gleichen Jahr erhob er seine Stimme gegen den ersten Golfkrieg. Er war eben in keine Schublade
zu stecken, dafür war er zu undogmatisch und zu offen für das, was er jeweils als das überzeugendere Argument empfand.
In manchen Nachrufen ist zu lesen, er habe 1996 der Politik den Rücken gekehrt, als er zunächst nach Erfurt als Gründungsrektor der neuen Universität wechselte und dann einem Ruf nach St.
Gallen in der Schweiz folgte. Da er nie wirklich in engen parteipolitischen Zusammenhängen dachte, wäre es eher verwunderlich und so gar nicht Glotz-typisch gewesen, hätte er dennoch in solcher
Begrenzung verharrt. Er schaffte sich den intellektuellen Freiraum, den er brauchte, ohne seine sozialdemokratische Herkunft zu leugnen. Er war eine moralische Instanz. Anders als viele, die in
Talk-Shows nur schwadronieren, war er jemand, der selbst dort etwas zu sagen hatte. Ich sinne ihm nach und werde ihn nicht vergessen.
Quelle: vorwärts 9/2005
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