Geschichte

Das „Prager Manifest“: Eine linke Antwort auf die Nazi-Tyrannei

Mit dem „Prager Manifest“ ruft die Exil-SPD am 28. Januar 1934 zum revolutionären Sturz des Hitler-Regimes auf. Auch wenn das Papier nicht die Wirkung entfaltet, die sich die Exil-Genoss*innen erhofft: Sie senden damit ein klares Zeichen nach Nazi-Deutschland.

von Mike Schmeitzner · 28. Januar 2024
Kampfansage an die Nazis: Am 28. Januar 1934 erscheint im Neuen Vorwärts das Prager Manifest.

Kampfansage an die Nazis: Am 28. Januar 1934 erscheint im Neuen Vorwärts das Prager Manifest.

Am 28. Januar 1934 veröffentlichte der in Prag beheimatete Exil-Vorstand der SPD, die Sopade, in seinen Zeitungen „Neuer Vorwärts“ und „Sozialistische Aktion“ ein Aktionsprogramm. Bereits der Titel des Programms „Kampf und Ziel des revolutionären Sozialismus“ machte klar, dass die Sopade einen neuen Kurs verfolgte. Die Bedingungen der NS-Diktatur ließen ihr dazu keine andere Wahl. Aber auch die Kritik von linken, nicht kommunistischen Gruppen und aus den eigenen Reihen am Verhalten der SPD während der Revolution 1918/19, in der Weimarer Republik und während ihres kampflosen Untergangs 1933 trugen zu der Kursänderung bei.

Da war von Versäumnissen, Fehlverhalten und Anbiederungen an bestehende Entwicklungen die Rede. Und es stellten sich Fragen nach den Ursachen der NS-„Machtergreifung“ und dem Untergang der SPD. Mit dem Aktionsprogramm versuchte die Sopade, Antworten auf diese Fragen zu geben und den Anhängern im Reich neue Zuversicht zu vermitteln. Der marxistisch argumentierende Text stammte aus der Feder Rudolf Hilferdings, des Cheftheoretikers der SPD und zeitweiligen Reichsfinanzministers; ab Spätsommer 1933 redigierte er im Exil die „Zeitschrift für Sozialismus“.  

„Kein Kompromiss“ im Kampf gegen den Faschismus

Gleich zu Beginn erklärte das Manifest, dass der „totale faschistische Staat“ nur im revolutionären Kampf überwunden werde könne und dass es in diesem Kampf „keinen Kompromiss“ und für „Reformismus und Legalität“ keinen Platz gebe. Ziele seien Freiheit, Demokratie und Sozialismus. Um den Kampf für diese Ziele zu führen, müsse sich die Arbeiterschaft „mit radikalem, kompromisslosem Geist“ erfüllen und im Reich selbst mit „kleinen Gruppen“ und einer „Elite von Revolutionären“ agieren. 

Solche Anleihen an den Widerstandskampf von anderen linken Gruppen wie „Neu Beginnen“ verknüpfte das Manifest mit der Ankündigung von einschneidenden politischen und ökonomischen Eingriffen. Man wolle gleichsam den „schweren historischen Fehler“ von 1918/19 korrigieren, indem man nach einem Sieg über das „Dritte Reich“ den „alten Staatsapparat“ grundlegend säubere. Gedacht war an die „Aburteilung“ der „Staatsverbrecher“ und ihrer Helfer, an den Neuaufbau einer „zuverlässigen Militär- und Polizeimacht“ sowie die Umgestaltung der Justiz. Mit einer „Revolution der Wirtschaft“ sollte die „sofortige entschädigungslose Enteignung“ des Großgrundbesitzes und der Schwerindustrie sowie die Vergesellschaftung der Großbanken in die Wege geleitet werden. Denn diese Bastionen wurden als Stützen der NS-Machthaber betrachtet.

Wichtigstes Ziel: Die Verhinderung des Kriegs

Erst nach der „Sicherung der revolutionären Macht“ und der Zerstörung der Machtpositionen der „Gegenrevolution“ solle mit dem Aufbau eines „freien Staatswesens“ und der Abhaltung demokratischer Wahlen begonnen werden. Gedacht war an den Aufbau einer „echten freiheitlichen Selbstverwaltung“ als Gegenstück zum jetzt existierenden „despotischen System der zentralisierten Staatsallmacht“. Die „Freiheit des Geistes“ und der Wissenschaft sollten wiederhergestellt, der „Rassenwahn“ bekämpft werden. Eine zentrale Bedeutung kam im Manifest auch der Verhinderung eines neuen, unvorstellbar zerstörerischen Krieges durch die NS-Führung zu; gerade deshalb müsse dieses Regime im revolutionären Kampf zerschlagen werden. Hilferding und die Sopade waren sich sicher, dass in diesem Kampf die Differenzen zwischen Sozialdemokraten, Kommunisten und linken Gruppen eingeebnet werden würden.  

Obwohl der Text marxistisch argumentierte und sich klar vom SPD-„Reformismus“ der Jahre vor 1933 abhob, wollten ihm nicht alle Mitglieder des Exil-Vorstandes zustimmen. Den Vertretern des linken Flügels Karl Böchel und Siegfried Aufhäuser ging der Entwurf nicht weit genug. In ihrer wenig später veröffentlichten Plattform „Der Weg zum sozialistischen Deutschland“ zielten sie auf eine Diktatur des Proletariats, in der die künftige „Einheitspartei“ mit den Räten die Herrschaft ausüben sollte; die „Wiedererrichtung der Demokratie“, sei – so die Autoren (darunter auch Max Seydewitz) – für sie kein Ziel. Sie mussten sich vom Chefredakteur des „Neuen Vorwärts“, Curt Geyer, zu Recht den Vorwurf gefallen lassen, dass sie die „tiefgehenden ideellen Unterschiede zwischen dem demokratischen Sozialismus und dem Kommunismus russischer Prägung“ verwischen würden. 

Wichtige Orientierung für die eigene Anhängerschaft

Auch wenn das Manifest die Stabilität des NS-Regimes erheblich unterschätzte und die Kampfbereitschaft der Arbeiterschaft überschätzte, so bot es doch wichtige Orientierungen für die eigene Anhängerschaft; auch im Reich selbst, wohin das Manifest in hoher Zahl eingeschmuggelt wurde. Und es stärkte den Gestaltungsanspruch des Exil-Vorstandes. Dafür, dass die Differenzen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten nicht eingeebnet wurden, sorgten unterdessen die bald inszenierten Moskauer Schauprozesse und die sklavische Bindung der KPD an Stalin.

Der im Manifest benannte und befürchtete neue Krieg entfaltete dann tatsächlich „Sklaverei und Bestialität“ im Inneren des Reiches wie im besetzten Europa. Hilferdings Vorahnung hatte den meisten Deutschen nicht die Augen öffnen können. Er selbst fiel 1941 im Pariser Gestapo-Gefängnis der NS-„Bestialität“ zum Opfer. In seinen letzten Lebensjahren hatte er dem Wert der Freiheit eine entscheidende und alles überragende Bedeutung beigemessen.

In seiner Kolumne Im Rückspiegel beleuchtet das Geschichtsforum der SPD historische Ereignisse und zieht Parallelen zur heutigen Zeit.

Autor*in
Mike Schmeitzner

Mike Schmeitzner ist Historiker und apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der TU Dresden sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarimusforschung. Er gehört dem Geschichtsforum beim SPD-Parteivorstand an.

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