Geschichte

Brandt, Schmidt, Scholz: Warum die Bundeskanzler nicht vergleichbar sind

Vor 50 Jahren kam es zum Kanzlerwechsel. Auf Willy Brandt folgte Helmut Schmidt. Warum beide heute als so unterschiedlich wahrgenommen werden und was das für den heutigen Kanzler Olaf Scholz bedeutet, war nun Thema einer Tagung.

von Kai Doering · 27. April 2024
Vereinfachende Etiketten taugen nichts: SPD-Kanzler Willy Brandt (l.) und Helmut Schmidt

Vereinfachende Etiketten taugen nichts: SPD-Kanzler Willy Brandt (l.) und Helmut Schmidt

Was für ein Kontrast! Hier der ehemalige Widerstandskämpfer gegen das Nazi-Regime. Dort der frühere, später geläuterte Offizier der Wehrmacht. Hier der visionäre Reformer, der mit seinem Versprechen „Mehr Demokratie wagen“ nicht nur die Jungen begeisterte. Dort der „Macher und Krisenmanager“, der mit seiner Unterstützung des Nato-Doppelbeschlusses nicht nur die SPD vor eine Zerreißprobe stellte.

Auf Brandt folgt Schmidt: Mehr als ein „Kanzlerwechsel“

Der Wechsel von Bundeskanzler Willy Brandt zu Bundeskanzler Helmut Schmidt am 16. Mai 1974 war mehr als nur ein „Kanzlerwechsel“. Verbunden waren damit ein deutlich veränderter Führungsstil und eine andere Ausrichtung der Politik – und das, obwohl beide Kanzler derselben Partei angehörten, der SPD. Dass es überhaupt mitten in der Legislatur und nur eineinhalb Jahre nach dem fulminanten Wahlsieg der Sozialdemokrat*innen 1972 zu diesem Wechsel kam, lag an der Guillaume-Affäre. Zehn Tage später trat Willy Brandt als Bundeskanzler zurück, Helmut Schmidt übernahm.

„Von Reform und Aufbruch war dann angesichts der Ölpreiskrise und der drohenden Haushaltslöcher kaum mehr etwas zu spüren“, blickt der Historiker Dietmar Süß zurück. „Stattdessen dominierte schon in Schmidts erster Regierungserklärung vom 17. Mai 1974 unter dem Titel ‚Kontinuität und Konzentration‘ jeder Duktus einer Neuen Sachlichkeit, die sich ganz bewusst als Gegenakzent zu den mehr als 30 Reformvorhaben verstand, von denen noch Willy Brandt in seiner ersten Regierungserklärung gesprochen hatte.“

„Das eine Erbe gibt es nicht.“

In der vergangenen Woche befasste sich eine internationale Tagung in Berlin – gemeinsam ausgerichtet von der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung und der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung – mit dem „Kanzlerwechsel 1974“. Bei der Abendveranstaltung am Donnerstag hielt Historiker Süß den Hauptvortrag. Darin warnte er vor einer Verklärung der beiden Kanzler. Die Etiketten des „Charismatikers“ auf der einen und des „Machers“ auf der anderen Seite griffen viel zu kurz. Stattdessen hätten beide, Brandt wie Schmidt, das für die Herausforderungen ihrer Zeit Notwendige getan.

Und: „Je länger die beiden nicht mehr im Amt waren, desto heller strahlte ihr Licht, und je trüber die Gegenwart, desto übermächtiger wird die Last der Geschichte.“ Das bekomme nicht zuletzt die SPD und der aktuelle Bundeskanzler Olaf Scholz zu spüren. „In der Sehnsucht nach einem historischen Erbe schwingt auch immer die Hoffnung mit, dass in der geschichtlichen Größe dieser Führungsfiguren Antworten auf die Dilemmata unserer Gegenwart zu finden sein“, warnt Süß. „Wir sollten deshalb sehr behutsam vorgehen, wenn wir den Begriff ‚historisches Erbe‘ gebrauchen und dabei daran erinnern, wie umfassend die zeitgenössischen Deutungsmuster noch immer unser Nachdenken über Willy Brandt und Helmut Schmidt prägen“, so der Historiker. „Das eine Erbe gibt es nicht.“

Brandt und Schmidt haben das jeweils Notwendige getan

Jede Zeit braucht ihre eigenen Antworten – darauf verwies Willy Brandt selbst in seiner Abschiedsbotschaft an die Sozialistische Internationale im September 1992. Daran erinnert am Donnerstag der Kuratoriumsvorsitzende der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Wolfgang Thierse. „Wenn wir auf das historische Erbe von Willy Brandt und Helmut Schmidt blicken, dann sollten wir an zwei Realisten denken, die in ihrer Zeit das politisch Nötige erkannt und das politische Mögliche umzusetzen versuchten, und das mit einigen Erfolg“, findet Thierse. Das Jahr des Kanzlerwechsel 1974 sei zudem „ein Krisenjahr“ gewesen, erinnert er. Die erste Ölkrise löste „eine große Wirtschaftskrise“ aus. „Zugleich gab es eine schwere politische Krise in den USA im Zeichen der Watergate-Affäre und eines immer noch andauernden Krieges in Vietnam.“

Historiker
Dietmar Süß

Mit Helmut Schmidt an der Spitze hätte die heutige Bundesregierung keine 48 Stunden überlebt.

Parallelen zur Gegenwart mit einer Energiekrise nach dem russischen Angriff auf die Ukraine und der drohenden Rückkehr eines US-Präsidenten Donald Trump drängen sich also auf. Ebenso wie die Frage, wie Willy Brandt und Helmut Schmidt wohl auf diese Herausforderungen reagiert hätten. „Beide hatten die absolute Kriegserfahrung, aber sie mussten nicht Politik in Zeiten eines Krieges in Europa machen“, erinnert in der Diskussion am Donnerstag der Publizist Albrecht von Lucke. Er ist dennoch überzeugt: „Sowohl Brandt als auch Schmidt hätte anders reagiert.“

„Die Welt von damals war berechenbar, die Spielregeln waren klar“, benennt die französische Historikerin Hélène Miard-Delacroix einen deutlichen Unterschied zwischen der Zeit vor 50 Jahren und der Gegenwart. Vertrauen zu schaffen, was für Brandt wie Schmidt „zentral“ gewesen sei, sei heute weitaus schwieriger. Für Historiker Dietmar Süß ist deshalb klar: „Mit Helmut Schmidt an der Spitze hätte die heutige Bundesregierung keine 48 Stunden überlebt.“

Einen Live-Mitschnitt der Tagung gibt es hier.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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