Geschichte

Warum die SPD die Trennung von Staat und Kirche 1919 nicht durchsetzen konnte

Die Weimarer Reichsverfassung beendet 1919 das Staatskirchensystem des deutschen Kaiserreiches. Die SPD will eine vollkommene Trennung von Staat und Kirche nach dem Vorbild Frankreichs. Doch dagegen gibt es massive Widerstände aus dem konservativen Lager.
von Klaus Wettig · 29. August 2019
Staat und Kirche sind in Deutschland auf vielfältige Weise miteinander verbunden: Sichtbar hier beim Trauergottesdienst und Staatsakt für den verstorbenen Alt-Bundespräsidenten Roman Herzog am 24. Januar 2017 im Berliner Dom
Staat und Kirche sind in Deutschland auf vielfältige Weise miteinander verbunden: Sichtbar hier beim Trauergottesdienst und Staatsakt für den verstorbenen Alt-Bundespräsidenten Roman Herzog am 24. Januar 2017 im Berliner Dom

Am 31. Juli 1919 erhält Deutschland mit der Zustimmung der SPD, des katholischen Zentrums, der Linksliberalen (DDP) und der Deutsch-Hannoveraner die erste demokratische Verfassung seiner Geschichte. Mit ihr ist für die folgenden 100 Jahre eine hart umkämpfte Frage entschieden: die Trennung von Staat und Kirche.

Streit zwischen den Weimarer Parteien

Den 262 Ja-Stimmen zur Verfassung stehen 75 Nein-Stimmen gegenüber. Sie kommen aus der rechtsliberalen DVP, der monarchistisch-konservativen DNVP, der konservativ-klerikalen Bayerischen Volkspartei und der linkssozialistischen USPD. Die Parteien haben unterschiedliche Motive: Der USPD geht die Trennung nicht weit genug, den anderen Parteien ist sie zu weit ausgefallen. Sie halten in unterschiedlicher Ausprägung an der historischen Verbindung von Staat und Kirche fest. Ähnliche Motive haben wohl die 82 Abgeordneten, die der Abstimmung fernblieben.

Die Mehrheitsposition gehört zu den Kompromissen der verfassungstragenden Parteien SPD, Zentrum und DDP. Da diese Kompromisse als Übergang zu weiter reichenden Beschlüssen gelten, fasst man sie unter dem Begriff dilatorische Kompromisse zusammen, die wegen der unentschiedenen Mehrheitslage die Weimarer Reichsverfassung (WRV) prägten. Für die gefundene Lösung der Trennung von Staat und Kirche findet sich bald die Bezeichnung der hinkenden Trennung.

Sozialdemokraten sehr kirchenkritisch eingestellt

Nach Programm und Praxis der SPD und der DDP hätte die WRV zu einer vollkommenen Trennung nach dem Vorbild der Französischen Republik kommen müssen. Tatsächlich hatten beide Parteien das Staatskirchensystem bekämpft. Die SPD sogar sehr grundsätzlich durch eine organisierte Politik des Kirchenaustritts, der im Kaiserreich rechtlich erschwert wurde, und durch parlamentarische Initiativen gegen die in fast allen Reichsländern ausgeübte geistliche Schulaufsicht, gegen die Einschränkung des Kirchenaustritts für Staatsbedienstete und den Gottesdienstzwang für Soldaten.

Ein Blick in die Biografien von sozialdemokratischen Funktionären vor 1919 zeigt das Ergebnis dieser Kirchenpolitik: Ausnahmslos waren sie Dissidenten. Trotz der Hindernisse hatten sie den Kirchenaustritt vollzogen.

Freiheit der Religionsausübung nach der Revolution 1918

Es überrascht deshalb nicht, dass der Rat der Volksbeauftragten in seinem ersten Beschluss vom 12. November 1918 die Freiheit der Religionsausübung verkündet. Eine Absage an die bisherigen Zwangsmaßnahmen. Da das landeskirchliche System an die Monarchien angebunden war, wandert durch die Revolution die verfassungsrechtliche Verantwortung an die revolutionären Landesregierungen, die sämtlich von SPD und USPD gestellt werden.

Für den Übergang müssen sich die Sozialdemokraten einiges einfallen lassen, um die neue Situation zu bewältigen. Die Dissidentenpartei soll über Nacht innerkirchliche Entscheidungen treffen, was ohne Konflikte und massiven öffentliche Reaktionen nicht möglich ist. Am bekanntesten werden die preußischen Konflikte, wo ein Drei-Männer-Gremium, das im Volksmund die Heiligen Drei Könige heißt, den preußischen König als Oberhaupt der Kirche ersetzt.

Schluss mit der geistlichen Schulaufsicht

So entscheiden die revolutionären Regierungen und ihre gewählten Nachfolger die drängendsten Fragen: Die geistliche Schulaufsicht verschwindet überall. Die Bekenntnisschulen bleiben erhalten, wofür in den katholischen Gebieten des Reiches beeindruckende Demonstrationen kämpfen, aber die Bekenntnisfreiheit der Lehrer wird durchgesetzt. Erhalten bleibt zunächst die konfessionsgebundene Lehrerbildung. In kleinen Schritten entwickelt sich danach die bekenntnisfreie Lehrerbildung. Erst in den 1960er/70er Jahre verschwindet sie mit den Bekenntnisschulen bis auf wenige Reste. Die CDU/CSU verteidigt dieses System bis in die 1970er Jahre.

Die Weimarer Reichsverfassung schafft den Ausgleich zwischen dem demokratischen, keiner Konfession verpflichtetem Staat und den großen Konfessionen in zentralen Fragen. Es bleibt bei der Anerkennung des besonderen Status der Konfessionen als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Auch das Inkassosystem des Staates bei den Abgaben der Kirchenmitglieder bleibt erhalten (Kirchensteuer). Art. 138 WRV garantiert das kirchliche Vermögen, das in Teilen auf Abkommen aus dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 und des Wiener Kongresses von 1815 beruht. Der Staat behält sich die Genehmigung von kirchlichen Vermögensgeschäften vor, worauf er erst nach 1945 verzichtet.

Das Grundgesetz führt das Erbe von Weimar fort

In Feinarbeit versuchen die Länder, ihre Beziehungen zu den Kirchen zu regeln, besonders heftig diskutiert werden dabei die Konkordate mit der katholischen Kirche in Preußen (1929) und Baden (1932). Dieser langwierige Prozess der Neuordnung durchzieht noch die Bundesrepublik, wo 1965 das von einer SPD-Regierung in Niedersachsen ausgehandelte Konkordat heftige Debatten auslöst. Die FDP scheidet damals im Protest aus der Landesregierung aus.

Das Nachwirken der kirchenpolitischen Konflikte in der Nazi-Zeit bewegt 1948/49 den Parlamentarischen Rat zur Fortsetzung der dilatorischen Kompromisse von 1919. Die Weimarer Kirchenartikel wird als Art. 140 ohne jede Änderung in das Grundgesetz übernommen. Zwar gibt es später Streit über die Gültigkeit des 1933 von der Hitler-Regierung abgeschlossenen Reichskonkordates, doch das Bundesverfassungsgericht entscheidet zugunsten der Länder: Kultur ist Ländersache, alles was dazugehört, kann nur von den Ländern verhandelt und entschieden werden. Danach dauert es noch fast zwei Jahrzehnte bis die Länder in neuen Verträgen, Verfassungsänderungen und Entscheidungen die Trennung von Staat und Kirche fortgeführt haben. Die Bekenntnisschulen verschwinden und ebenso die konfessionelle Lehrerbildung.

Neue Herausforderungen im 21. Jahrhundert

Neue Entwicklungen drängen im 21. Jahrhundert auf eine neue Runde bei der Trennung von Staat und Kirche: die hohe Zahl der Konfessionslosen, der Islam als neue, große Konfession mit seiner besonderen Verfassung sowie die Kritik an den fortdauernden Staatsleistungen für die großen christlichen Konfessionen.

Autor*in
Klaus Wettig

war von 1975 bis 1976 Politikberater für die sozialistische Partei im revolutionären Portugal. Als Mitglied des Europäischen Parlamentes war er Vorsitzender des Ausschusses für den Beitritt Portugals zur Europäischen Gemeinschaft.

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