Geschichte

55 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen: ein Zuwanderer blickt zurück

Am 30. Oktober 1961 wurde das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei geschlossen. Hunderttausende türkische Arbeitskräfte kamen nach Deutschland. Einer von ihnen: Hayrettin Eryilki.
von Peter Schraeder · 28. Oktober 2016
Zuwanderer Hayrettin Eryilki
Zuwanderer Hayrettin Eryilki

Als Hayrettin Eryilki 1965 nach einer mehrtägigen Zugfahrt in München ankam, war alles schon geklärt. Seine Anstellung in einer Aschaffenburger Metallfabrik war sicher; zunächst würde er ein Jahr arbeiten, und schlafen würde er in einem Wohnheim für ausländische Arbeitskräfte. Was ungewiss war: Wie würde seine Zukunft aussehen? Und wie die seiner Frau und seines Sohnes, die er zurückgelassen hatte?

In Deutschland gab es Arbeit

So wie viele andere Türken machte sich Eryilki damals auf den Weg, um fern der Heimat zu arbeiten und ein neues Leben zu beginnen. Grundlage für die Arbeitsmigration nach Deutschland waren mehrere Anwerbeabkommen der Bundesrepublik mit verschiedenen Staaten aus Europa und Nordafrika. Das Abkommen mit der Türkei von 1961 ist aus Sicht der Gegenwart das folgenreichste, denn die rund drei Millionen türkischstämmigen Menschen in Deutschland stellen unter den Zugewanderten heute die größte Gruppe dar.

Hayrettin Eryilki, geboren 1936 in Elâzığ  in der Osttürkei, erfuhr von den guten Arbeitschancen in Deutschland durch andere türkische Migranten, die in Deutschland Gastarbeiter genannt wurden. Auch der gelernte Dreher, Sohn eines Maurers, wollte in der deutschen Metallverarbeitung gutes Geld verdienen. Seine Eltern, insbesondere seine Mutter, waren jedoch gegen die Abreise.

Sie stellten dem Sohn eine Bedingung: Wenn er seine Frau verlassen würde, dürfte er ziehen. Eryilki hatte gegen den Willen seiner Familie eine Frau geheiratet, die bereits zwei Kinder hatte – und von ihm nun ein drittes erwartete. „Ich war überfordert, liebte meine Mutter und hörte auf ihr Wort“, blickt der 80-Jährige zurück.

Viel Arbeit, wenig Geld

Angekommen in Aschaffenburg begann Eryilki sofort zu arbeiten. An die Heimat dachte er zunächst nicht mehr. „Ich nahm mein Schicksal hin und sagte mir: Hauptsache du verdienst Geld“, sagt Eryilki. Die Arbeit in der Metallfabrik gefiel dem jungen Mann. Seine Unterkunft bekam er von der Firma gestellt; das Zimmer im Arbeiterwohnheim der Fabrik teilte er sich mit einem Mitbewohner. „Wir haben Skat gespielt oder gekocht“, erzählt Eryilki.

Kontakt zu Deutschen gab es außerhalb der Arbeit kaum. „Ich war immer eher zurückhaltend“, so der 80-Jährige. Allerdings sprach er damals auch kein Wort Deutsch. Angebote zum Erlernen der Sprache gab es nicht. „Ich habe mir die wichtigsten Begriffe mit einem Wörterbuch selbst beigebracht“, sagt Eryilki. Für die Arbeit bekam er 3,50 D-Mark pro Stunde. „Ich nehme an, meine deutschen Kollegen bekamen mehr“. Zeit zum Geldausgeben hatte er aber ohnehin kaum – denn Urlaub gab es nicht. „Weil es so wenige Arbeitskräfte gab, wollte mir mein Chef nie freigeben. Als ich meine Eltern besuchen wollte, musste ich kündigen“, sagt Eryilki.

Berlin: Neue Arbeit, neue Familie

Zurück in der Türkei waren die Erwartungen groß. „Die Leute dachten, ich wäre reich geworden“, schmunzelt Eryilki. Nur wenige Monate blieb er in der Türkei, dann suchte er eine neue Arbeit in Deutschland. „Ich wollte ins Baugewerbe, denn ich hatte gehört, dass ich da mehr Geld verdienen könnte“. 1969 zog Eryilki von Bayern nach Berlin, da seine Schwester ebenfalls nach Deutschland gekommen war. Von einem deutschen Freund ließ er sich beraten, wo er Arbeit finden könne. Nach einer kurzen Station bei Mercedes fing Eryilki bei Siemens an.

In Berlin gründete er auch eine zweite Familie. „Meine Eltern hatten eine Frau für mich gesucht“, erzählt Eryilki. Er fügte sich dem Wunsch von Vater und Mutter und heiratete in der Türkei. Seine zwei Kinder aber wurden hier geboren: Eryiliks Sohn ist heute Ingenieur, seine Tochter Arzthelferin. „Sie lebt noch in Berlin und besucht mich regelmäßig“, so der alte Mann. Zu seiner ersten Ehefrau suchte er keinen Kontakt mehr, ein einziges Mal besuchte er sie und ihren gemeinsamen Sohn.

Einwanderungsland Deutschland

20 Jahre arbeitete Eryilki bei Siemens. Detailliert berichtet er von seinen damaligen Aufgaben. Der Metallfacharbeiter war für das Schleifen von Einzelteilen für große Transformatoren zuständig. Die Maße seiner Werkstücke hat er noch genau im Kopf. „Die einzelnen Teile mussten so glatt wie Glas sein“, erklärt er.

Dann kam der Mauerfall. „Wieder ein großes Abenteuer für mich“, meint Eryilki. Sein Arbeitgeber legte ihm nahe, in Frührente zu gehen. „Um Platz zu schaffen für die Ostdeutschen“, wie der Berliner meint. Doch schließlich willigte er ein.

Heute lebt der 80-Jährige von einer kleinen Rente. Er ist noch fit, trotz zwei Schlaganfällen und einem überstandenen Blasenkrebs. Regelmäßig besucht er eine Tagespflege, die sich auf die Betreuung von Migranten im Seniorenalter spezialisiert hat. Hier können die Zuwanderer mit dem Personal in ihrer türkischen Muttersprache sprechen. Es ist die letzte Generation, die noch in der Türkei aufgewachsen ist. Die Generation von Hayrettin Eryilki, die Deutschland zu einem Einwanderungsland gemacht hat.

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Autor*in
Peter Schraeder

studiert Public History an der Fu Berlin.

1 Kommentar

Gespeichert von Gürsel (nicht überprüft) am Di., 09.01.2024 - 22:21

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