SPD-Politiker Michael Roth: Ein „Tempomacher“ steigt aus
Michael Roth hat gedrängt: Für mehr schwere Waffen für die Ukraine, für mehr Solidarität mit Israel. Der raue Wind in der Politik hat Spuren an dem 54-Jährigen hinterlassen. Nun drängt es ihn zu neuen Aufgaben.
Dominik Butzmann/Photothek
Michael Roth, SPD-Außenexperte, am Holocaust-Mahnmal in Berlin-Mitte.
Das passt ihm jetzt gar nicht. Die vielen Tourist*innen, der Fotograf, der sein Stativ gerade vor einem der Beton-Stelen aufbaut. Und dann kommen auch noch zwei Mitarbeiter vom Sicherheitsdienst auf ihn zu. Ob er eine Genehmigung habe, fragen sie den Fotografen, der Michael Roth gerade ablichten will. Schließlich sei das Holocaust-Mahnmal in Berlin-Mitte ein geschützter Ort. „Wir klären das“, fährt der SPD-Abgeordnete dazwischen und zückt sein Handy. Den Direktor der Stiftung des Denkmals kennt er persönlich.
Michael Roth hat keine Zeit zu verlieren. An diesem Nachmittag im September, aber auch sonst, schließlich verlässt er im Herbst 2025 die Politik. Bis dahin hat er noch viel zu tun. Der 54-Jährige gehört zu den bekanntesten Bundespolitiker*innen der SPD. Seit 2021 ist er Chef des Auswärtigen Ausschusses, vorher war er Staatsminister im Auswärtigen Amt. Und Roth ist der Mann, der seit Februar 2022 für mehr Unterstützung für die Ukraine streitet. Auch mit der eigenen Partei.
Der Parteilinke aus Heringen, eine Kleinstadt in Osthessen, ist auf Fotos aus dem Bundestag oft mit schneeweißen Sneakers zu sehen. Dazu trägt er einen azurblauen Zweiteiler, eng geschnitten. Ein ernster Typ mit sportlichem Eifer. Roth macht einen selbstbewussten, zeitweise etwas genervten Eindruck. Wie jemand, der seine Meinung immer wieder verteidigen muss.
„Ansonsten könnt ihr mich mal“
Mit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs wird Roth zu einem bekannten Gesicht. Weil wenige in der SPD so russlandkritisch sind wie er, stürzen sich die Medien auf ihn. Als der Kanzler noch zögert, fordert Roth in Talkshows, dass Deutschland mehr und schwerere Waffen liefern muss. Er argumentiert, dass die Ukraine Waffen aus dem Westen für Angriffe auf Russland einsetzen darf – und widerspricht damit der Mehrheitsmeinung der Deutschen. Auch nach dem Hamas-Angriff auf Israel wählt er deutliche Worte und prangert den Antisemitismus in der politischen Linken an.
Auf X postete er zuletzt ein Foto mit einem Streuselkuchen. „Israelhass und Putinverehrung“, schreibt er, erwidere er mit Liebe: „Ansonsten könnt ihr mich mal…“
Ein Video von Roth wurde besonders oft geteilt. Darin verkündet er im März seinen Ausstieg aus der Politik. Im kommenden Jahr wird er 27 Jahre für seinen Wahlkreis in Nordhessen im Bundestag sitzen. Neu antreten möchte er nicht. „Ich sage das ohne Zorn und ohne Enttäuschung, aber ich habe dein Eindruck, dass es jetzt Zeit wird.“
Im Fraktionsaal wie im „Kühlschrank"
Mit den Jahren wurde Roth einer der renommiertesten Außenpolitiker dieses Landes. 1998 zieht er ins Parlament ein, 2009 wird er Vorsitzender der Landesgruppe Hessen und Generalsekretär der hessischen SPD. 2010 wählt ihn die Bundestagsfraktion zum europapolitischen Sprecher, drei Jahre später wird er Staatsminister für Europa. Das Holocaust-Mahnmal hat er bewusst für das Interview gewählt, es war sein erstes Erfolgsprojekt als Abgeordneter. In den späten 1990ern hatte sich die Debatte um den Bau des Mahnmals komplett verhakt. Verschiedene Vorschläge standen im Raum und Roth erarbeitete mit anderen einen Kompromiss, der dann beschlossen wurde. Die Debatten um den Bau des Mahnmals hätten ihn „wahnsinnig viele Nerven“ gekostet, sagt er. Doch das Denkmal habe ihm gezeigt: „Kompromisse sind nicht schlecht, sie können auch viel Gutes bewirken."
Wenige Tage nach dem Video auf X erscheint ein Interview mit Roth im „Stern“. Darin begründet Roth seinen Ausstieg aus dem Bundestag mit Kritik am Politikbetrieb. Wenn er die Tür zum Fraktionssaal geöffnet habe, sagt er, habe er den Eindruck gehabt, er steige „in einen Kühlschrank“.
In der Tat begrüßte nicht alle in der Partei Roths Engagement. „Wir brauchen keine Alleingänge von Abgeordneten, sondern eine gemeinsame Politik mit unseren Verbündeten“, kritisierte der SPD-Außenpolitiker Ralf Stegner seinen Parteikollegen im Sommer 2023. Dabei hatte Roth ja immer vom Gemeinsamen geträumt.
Er wächst in einer Arbeiterfamilie in Osthessen auf, an der Grenze zur DDR. „Hinter dem Horizont in Richtung Osten ging es für mich nicht weiter“, sagt er. „Da war die Grenze, die Selbstschussanlagen, der Zaun.“ Als die Mauer fällt, ist er 19 Jahre alt und seit zwei Jahren Mitglied in der SPD. „Der Mauerfall hat in mir den Traum von einem Europa ohne Grenzen geweckt. Ein Kontinent des Friedens.“
Das Dilemma der SPD
Ein Traum, den in der SPD wohl viele teilten. Doch Putin hat ihn zertrümmert. Mit dem Ukraine-Krieg steht die Partei vor der Frage: Macht es Sinn, schwere Waffen zu liefern, durch die noch mehr Menschen sterben? Die langwierigen Diskussionen um die Lieferung von Panzern oder die Stationierung von US-Raketen in Deutschland verdeutlichen, vor welchem Dilemma die Partei stand.
Michael Roth,
SPD-Abgeordneter
Man kann sich auch schuldig machen, indem man nichts tut.
„Man fragt sich immer, wie man seinen eigenen Prinzipien gerecht werden kann“, sagt Roth. „Aber wenn wir wirklich helfen wollen, müssen wir uns auch fragen, ob unsere Prinzipien noch zu der Welt da draußen passen, die sich dramatisch verändert hat. Man kann sich auch schuldig machen, wenn man nichts tut. Wenn man wegschaut und seine Hände vermeintlich in Unschuld wäscht."
Er sei enttäuscht „von der mangelnden Streitkultur“ in der SPD. „Aber warum soll es gerade bei Fragen von Krieg und Frieden, bei denen es kein richtig und falsch gibt, keine Debatten geben?“ Der Außenpolitiker führt das auf interne Parteiquerelen zurück. In Teilen der SPD gebe es „eine tiefgehende Angst, wieder in alte Hau-Drauf-Zeiten zurückzukehren, die uns schwer zugesetzt haben."
Er selbst sieht sich nicht als Unruhestifter, sondern als „Tempomacher“. Er habe nur „sozialdemokratische Überzeugungen zum Klingen gebracht“. Tatsächlich wurden viele von Roths Forderungen inzwischen umgesetzt. Deutschland läutet Anfang 2023 eine „Panzerwende" ein und liefert Dutzende schwere Waffen.
„Politik ist immer eine Aufgabe auf Zeit“
Doch die Diskussionen über den Krieg haben Spuren hinterlassen. Was haben wir übersehen, haben wir Putin unterschätzt? Diese Fragen nimmt Roth seit dem 24. Februar 2022 mit ins Bett. Ein paar Monate später erleidet er ein Burnout - und bricht erneut ein Tabu, indem er öffentlich darüber spricht. Noch vor der Sommerpause zieht er sich zurück, kommt dann aber gestärkt wieder. Damals habe er lernen müssen, einfach mal nichts zu tun, sagt er heute.
Politiker*innen brauchen inzwischen eine enorme Stressresistenz, sagt Roth. Die sei ihm nicht so zu eigen. Ja, heute sei er weniger belastbar. „Aber auch weniger bereit, den Mund zu halten. Weniger bereit, mich einfach wieder ins Glied zu bewegen und stumm zu bleiben, wenn es eine starke Stimme braucht", sagt Roth.
Im Dezember 2023 will er es noch mal wissen. Am SPD-Parteitag kandidiert Roth erneut für den Parteivorstand, Mitglied des Präsidiums ist er bereits seit 2017. Doch er verfehlt die nötige Mehrheit. Als der Ergebnis verkündet wurde, jubelten einige Delegierte. Auf einen zweiten Wahlgang verzichtet Roth.
Heute sagt er, die Kandidatur war ein Fehler.
Wie es weitergehen soll, das weiß er nicht. Ein anderes politisches Amt strebe er definitiv nicht an. „Auf keiner Ebene. Ich bin draußen.“ Ist sein Ausstieg auch ein Aufgeben? Michael Roth holt auf der Beton-Stele tief Luft. „Politik ist immer eine Aufgabe auf Zeit“, sagt er. „Als Politiker weißt du, du bist nicht unersetzlich. In dieser großen Geschichte, die Politik erzählt, bist du nur ein kleines Rädchen. Aber du hast Spuren hinterlassen. Und andere machen dann hoffentlich weiter.“
Die Serie
In loser Reihenfolge stellen wir in den kommenden Monaten SPD-Abgeordnete vor, die den Bundestag im kommenden Jahr verlassen werden. Alle Texte finden Sie hier.
Michael Roth
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„Mehr Solidarität mit Israel“
einfordern, dabei „in bunten Ringelsocken und Turnschuhen auf einer der Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin sitzend“, und dieses Bild mit Michael Roths Haltung gegenüber Israel kritisch zu beleuchten, ist „nur eine persönliche Mitteilung“ und „bezieht sich nicht auf den Inhalt des Artikels“. Das ist kühn netiquettiert.
Ich finde es gut, dass Roth abtritt!
Mir haben seine Äußerungen nie gefallen. Ich fand ihn oberflächlich, kritiklos transatlantisch und im Kern nicht sozialdemokratisch. Vermutlich hat er deshalb SPD Fraktionssitzungen als Kühlschrank empfunden: Er hat da einfach nicht hin gepasst.
Michael Roth
Schade, dass Michael aufhört. Man muss ja nicht immer seiner Meinung sein, aber die große Leidenschaft, mit der er seine Themen und Standpunkte vorbringt, hebt ihn wohltuend von vielen anderen unserer Genossinnen und Genossen ab.