Geschichte

Robert Leinert: Erster Sozialdemokrat auf dem Chefsessel einer Großstadt

Dass die Novemberrevolution 1918 in Hannover nicht eskaliert, ist vor allem Robert Leinert zu verdanken. Später wird der Arbeiter und Sozialdemokrat Oberbürgermeister. Auch reichsweit spielt Leinert eine entscheidende Rolle.

von Lothar Pollähne · 21. Dezember 2023
Das Präsidium des neu gewählten Preußischen Landtages im März 1921, von links: Vizepräsidenten Garnich (DVP) und von Kries (DNVP), Präsident Leinert (SPD), Vizepräsident Porsch (Zentrum)

Das Präsidium des neu gewählten Preußischen Landtages im März 1921, von links: Vizepräsidenten Garnich (DVP) und von Kries (DNVP), Präsident Leinert (SPD), Vizepräsident Porsch (Zentrum)

Am Abend des 6. November 1918 rollt die Revolution in Hannover ein. Soldaten und Matrosen aus Kiel und Wilhelmshaven übernehmen den Hauptbahnhof und damit den wichtigsten Eisenbahn-Knotenpunkt Norddeutschlands. Am Tag darauf ist die Zahl der revoltierenden Soldaten auf über 1000 gewachsen. Vormittags konstituiert sich ein provisorischer Soldatenrat. Der nimmt mangels eigener Führungskräfte Kontakt zur Hannoverschen Sozialdemokratie auf. 

Die ist zwar nicht gerade revolutionär aufgestellt, aber organisatorisch mächtig und reichsweit vernetzt. Gleich drei sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete ziehen in den daraufhin gebildeten Vorläufigen Arbeiter- und Soldatenrat ein. 

Als Führungsfigur jedoch fungiert ein ausgebuffter Taktiker: der preußische Landtagsabgeordnete Robert Leinert. In einem Flugblatt an die „Soldaten, Arbeiter und Genossen“ schreibt er: „Kameraden! Eure Angelegenheit befindet sich in besten Händen!“ Und so wird die Revolution nicht proletarisch radikal, sondern durch und durch deutsch „wohlorganisiert, geordnet, sauber, nüchtern“, wie sich die Schriftstellerin und Augenzeugin Vicki Baum erinnert.

In Hannover bleibt es ruhig

Während die Revolution in Berlin erst am 9. November ausbricht, sorgt Robert Leinert in Hannover dafür, dass die Stadt ruhig bleibt und von einer durch den Arbeiter- und Soldatenrat gebilligten Verwaltung geführt wird. Diese ist seit dem 6. November handlungsunfähig, denn Hannovers Stadtdirektor Heinrich Tramm ist an diesem Tag vor den anrückenden Revolutionären nach Berlin geflüchtet und unauffindbar. 

Das spielt Robert Leinert in die Karten. Am 11. November 1918 veröffentlicht der Arbeiter- und Soldatenrat ein Sechs-Punkte-Papier, das unter Punkt zwei die Bestimmung enthält: „Zum Stadtdirektor wird ein Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrates gewählt.“  Mit dieser Vorgabe sorgt Leinert als Vorsitzender des Rates dafür, dass diese Wahl zwangsläufig auf ihn hinausläuft. 

Am 13. November 1918 wird Robert Leinert von der liberal-konservativen Magistratsmehrheit gewählt und erhält die Amtsbezeichnung „Oberbürgermeister“. Leinert ist damit der erste Arbeiter und der erste Sozialdemokrat an der Spitze einer deutschen Großstadt.

Leinert verspricht Demokratie und Sozialismus

In seiner Antrittsrede während einer gemeinsamen Sitzung aller städtischen Kollegien macht Robert Leinert am 15. November 1918 deutlich, dass es unter seiner Führung keine sozialistischen Umwälzungen und keine Vergesellschaftung von Produktionsmitteln geben wird und erklärt: „Ich darf noch einmal wiederholen, dass wir mit dieser Bewegung Demokratie und Sozialismus wollen, und das muss durch die weitgehendsten Rechte jedes einzelnen Staatsbürgers gesichert sein.“ 

Sein republikanisches Staatsverständnis fasst Leinert an diesem Tag in folgende Worte: „Des Volkes Wille ist das höchste Gesetz.“ Mit seiner Wahl zum Oberbürgermeister von Hannover wird Robert Leinert zu einer der wichtigsten Figuren in den revolutionären Tagen im November 1918.

Eine Kindheit im Armenhaus

Geboren am 16. Dezember 1873 in Striesen bei Dresden, wächst Robert Leinert in ärmlichen Verhältnissen auf. Einen Teil seiner Kindheit verbringt er im Armenhaus. Nach Abschluss der achtjährigen Volksschule lernt Leinert das Malerhandwerk und geht auf „Wanderschaft“. In dieser Zeit findet er zur organisierten Arbeiterbewegung und wird 1891 Mitglied der SPD. 

1894 kommt Robert Leinert nach Hannover, die Stadt, die ihn und die er in den kommenden Jahrzehnten prägen wird. Zur Jahrhundertwende konzentriert er sich als Arbeitersekretär ausschließlich auf die Parteiarbeit und wird einer der ersten Berufspolitiker. 

Ein sozialdemokratischer Aufstieger

Mit seinem Eintritt in die Redaktion der sozialdemokratischen Tageszeitung „Volksstimme“ betritt Robert Leinert einen klassischen sozialdemokratischen Aufstiegspfad. Binnen weniger Jahre gelingt es, die Abonnentenzahl auf 20.000 zu erhöhen und ein Darlehen des Parteivorstands abzutragen. 

Leinert wird zum „Watschenmann“ der wilhelminischen Obrigkeit und wegen Nichtigkeiten mit Zeugniszwangsverfahren, Geldstrafen und Gefängnis drangsaliert. Das schadet weder Robert Leinert, dessen Ansehen wächst, noch der Volksstimme, die zu einer der wichtigsten sozialdemokratischen Tageszeitungen in Deutschland wird. 1906 beruft die SPD Robert Leinert zum Parteisekretär für die Provinz Hannover. Das verschafft ihm als Parteiarbeiter auch überregional Anerkennung und Respekt. 

Kontakte für die Sozialdemokratie hinaus

1908 zieht Robert Leinert für die damals noch eigenständige Industriestadt Linden, die an Hannover grenzt, mit einem Direktmandat in das preußische Abgeordnetenhaus ein, das er trotz vielerlei Anfeindungen von Bürgerlichen und Monarchisten bis zum Ende des Kaiserreiches verteidigen kann. In dieser Zeit erwirbt er sich fundierte Kenntnisse über die parlamentarischen Geschäftsabläufe und knüpft Kontakte auch über die Grenzen der Sozialdemokratie hinaus. 

Diese Erfahrungen und seine ordnende Tätigkeit während der Novemberrevolution prädestinieren ihn, den Vorsitz der Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte zu übernehmen, die vom 16. bis zum 20. Dezember 1918 in Berlin tagt. Auch hier überzeugt Robert Leinert mit seinem taktischen Geschick als Sitzungsleiter, was ihm selbst von radikaler rätesozialistischer Seite bescheinigt wird. 

Räterepublik oder parlamentarische Demokratie?

Schließlich geht es um die Frage, ob das nachrevolutionäre Deutschland eine Räterepublik oder eine parlamentarische Demokratie wird. Die Konferenz, in der die Mehrheits-Sozialdemokratie eine satte Mehrheit hat, beschließt, am 19. Januar 1919 die Wahlen zur Nationalversammlung abhalten zu lassen. 

Der überzeugte Parlamentarier Robert Leinert versteht diese Entscheidung auch im internationalen Zusammenhang als wegweisend und sieht die Revolution empathisch als „Wiedergeburt des deutschen Volkes, Hinführung zu jener gewaltigen, der deutschen Arbeiterklasse immer und immer wieder gepredigten Stufe der Kultur, das wollen wir". 

Und weiter: „Wir wollen das Volk zur Glückseligkeit, zum Glück und zur Freude emporbringen, damit es auch Liebe zur Arbeit gewinnt, nicht für Kapitalisten, sondern für das ganze Volk.“ 

Zum Abschluss der Konferenz fordert Leinert die Delegierten auf, „mit mir einzustimmen in ein Hoch auf das revolutionäre, sozialistische Deutschland, auf die geeinte sozialistische Republik Deutschland: Sie lebe hoch — nochmals hoch! —  und nochmals hoch!“

Robert Leinert setzt auch auf die Räte

Die Reichskonferenz setzt als Kontrollorgan einen Zentralrat ein, der in den Wochen bis zu den Wahlen als Bindeglied zur kommissarisch handelnden Regierung von Friedrich Ebert dienen soll. Den Vorsitz dieses Gremiums übernimmt selbstverständlich der Macher und Mediator Robert Leinert. 

Ein Thema beherrscht diese Wochen: Eberts ablehnende Haltung den Räten gegenüber. Leinert gelingt es, das Zusammenspiel von Räten und Regierung moderat auszugestalten, denn er sieht im Gegensatz zu Ebert die Räte als Übergangsgremien zur parlamentarischen Demokratie, und die ist äußerst labil. 

Am 29. Dezember 1918 verantwortet Robert Leinert für den Zentralrat einen Aufruf, in dem es heißt: „Wir wollen alle Versuche vereiteln, die von rechts unternommen werden könnten, eine Gegenregierung zu organisieren. Wir müssen aber auch darauf achten, dass die Revolution nicht in Verruf gebracht wird durch das Treiben der Spartakusgruppe, die nach bolschewistischen Rezepten einen Terrorismus ausüben möchte, der mit Demokratie unvereinbar ist."

Gehässige Berichte

Robert Leinerts Doppelbelastung als Vorsitzender des Zentralrats und Oberbürgermeister von Hannover wird nach der Wahl zur Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung am 26. Januar zur Dreifachbelastung. Leinert wird zum Präsidenten gewählt, und das bedingt in den Anfangsmonaten seine überwiegende Anwesenheit in Berlin. Dies wird im heimatlichen Hannover vor allem von rechter und linksradikaler Seite übelgenommen und von den meisten Medien mit einer gehässigen Berichterstattung begleitet. 

Dennoch gelingt es Robert Leinert in seinen fünf Amtsjahren, die Stadt Hannover gründlich zu modernisieren. Gegen den konservativen Block setzt er Anfang 1920 den Zusammenschluss der beiden preußischen Städte Hannover und Linden durch. Dank seiner Kontakte nach Berlin kann die neue Großstadt das ehemalige Königliche Hoftheater, die Herrenhäuser Gärten und das Leineschloss vom Land Preußen übernehmen.

Im Ruhestand nach einem Nervenzusammenbruch

Ein wesentliches Anliegen Robert Leinerts ist die Modernisierung und Demokratisierung der Verwaltung. Gegen den Widerstand der an Hinterzimmer gewöhnten Konservativen setzt er die Einrichtung eines Pressebüros und die Gründung eines städtischen Werbebüros durch, um bei der Tourismusförderung nicht auf die Privatwirtschaft angewiesen zu sein.

Als sich nach den Kommunalwahlen vom 2. Mai 1924 die Zahl der sozialdemokratischen Ratsmitglieder nahezu halbiert, wird Robert Leinerts Lage als Oberbürgermeister aussichtslos. Unter dem Druck der konservativen Mehrheit überwirft er sich sogar mit großen Teilen der Partei. Das hält er gesundheitlich nicht durch. Nach einem Nervenzusammenbruch begibt er sich im September 1924 zur Behandlung in ein Sanatorium nach Kassel. Zum 1. Januar 1925 wird Robert Leinert in den Ruhestand versetzt. 

Überwacht von der Gestapo

1933 sorgen sein Nachfolger Arthur Menge und dessen nationalkonservativ-faschistischen Gesinnungsfreunde dafür, dass Leinert die ihm rechtlich zustehende Pension gestrichen wird. Die Jahre bis zu seinem Tod am 10. Februar 1940 verbringt Robert Leinert, überwacht von der Gestapo, als Vertreter für die Orpil-Seifenwerke in Hannover. 

Obwohl die Polizei versucht, einen Trauermarsch anlässlich der Beerdigung von Robert Leinert am 14. Februar zu verhindern, lässt sich eine große Menschenmenge nicht davon abhalten, diesem großen, aber größtenteils bereits vergessenen Sozialdemokraten die letzte Ehre zu erweisen. 

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Lothar Pollähne

ist Journalist und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Hannover.

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