Inland

„Mit den hohen Energiepreisen gerät Deutschland ins Hintertreffen“

Droht Deutschland im großen Stil die Abwanderung von Unternehmen? Ines Zenke, Präsidentin des Wirtschaftsforums der SPD, mahnt die Politik, schneller bei Genehmigungsverfahren zu werden. Beim Strompreis fordert sie mehr Unterstützung.
von Kai Doering · 15. Mai 2023
Der hessische Heizungsbauer Viessmann verkauft seine Klimasparte an den US-Konkurrenten Carrier Globa. lHat das Unternehmen hier keine Alternative mehr gesehen?
Der hessische Heizungsbauer Viessmann verkauft seine Klimasparte an den US-Konkurrenten Carrier Globa. lHat das Unternehmen hier keine Alternative mehr gesehen?

Der Verkauf des deutschen Wärmepumpen-Spezialisten Viessmann in die USA hat Politik und Wirtschaft schockiert. Sie auch?

Schockiert? Nein, aber ich bedauere diese Entwicklung. Viessmann steht für die Art Mittelständler, auf die Deutschland zu Recht stolz ist. Ein familiengeführtes Unternehmen, das in seiner Sparte zu den Besten der Welt gehört.

Das Unternehmen verweist auf den globalen Markt, dem es sich zu stellen gilt. Alles nachvollziehbar. Je nach Sichtweise eine Bestätigung für den Standort und seine Bedingungen, die dieses Unternehmen so erfolgreich hat werden lassen, dass eben auch aus internationaler Sicht ein Kauf äußerst attraktiv ist. Blickt man kritisch auf die Bedingungen am Standort, kann man zu einer anderen Bewertung kommen: Hat das Unternehmen hier keine Alternative mehr gesehen? Aus meiner Sicht entscheidend ist aber: Wir müssen erkennen, dass sich die Welt beim Thema Energie rasant verändert. Und diesen Wandel gestalten wir besser mit, bevor wir davon überrollt werden.

Die Rahmenbedingungen für Unternehmen sind in den USA durch den „Inflation Reduction Act“ zurzeit deutlich besser als in Deutschland. Wie sollte die Politik darauf reagieren?

Sie sollte den IRA als Chance verstehen. Und ergreifen. Als Chance und Aufforderung, auch in Europa besser, schneller, effizienter, zielorientierter zu handeln. Das machen uns die USA jetzt vor. Der IRA ist bestechend einfach und unbürokratisch. Toll! Für Europa heißt das, dass wir unsere Hausaufgaben machen müssen: schneller planen, genehmigen, entscheiden und umsetzen! Dann gelingt es auch, uns gegenseitig zu stärken. Denn wir dürfen nicht vergessen: Die Dekarbonisierung ist eine globale Herausforderung, die wir global meistern müssen.

Bei einer Konferenz des Wirtschaftsforums haben Sie dem Bundeswirtschaftsministerium kürzlich vorgeworfen, es nehme insbesondere die hohen Strompreise für die Industrie „mit einem Achselzucken“ hin und verhalte sich eher wie ein „Wirtschaftsabwicklungsministerium“. Was wünschen Sie sich von Robert Habeck?

Meine Äußerung bezog sich auf sehr konkrete Äußerungen eines Vertreters des Bundeswirtschaftsministeriums. Er hatte wenig Verständnis für die schwierige Situation der produzierenden Industrie in Deutschland und energieintensiven Unternehmen den Standortwechsel in andere Länder nahegelegt, wenn sie hier keine wettbewerbsfähigen Strompreise finden würden. Das ist ärgerlich und ein fatales Signal, das nicht abbildet, wie wichtig die Industrie für den Wirtschaftsstandort Deutschland ist. In die Diskussion um die Einführung eines Industriestrompreises, den unser Verband seit Sommer 2022 fordert, ist jetzt aber zum Glück Bewegung gekommen.

Konkret fordert das Wirtschaftsforum die Einführung eines Industriestrompreises von 5 bis 7 Cent pro Kilowattstunde ab dem kommenden Jahr. Warum spielt der Strompreis eine so entscheidende Rolle für die Unternehmen?

Die hohen Energiekosten gefährden die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und des Standorts insgesamt. Seit vergangenem Jahr haben Unternehmen in energieintensiven Sektoren ihre Produktion zum Teil massiv zurückgefahren. Andere haben ihren Produktionsstätten gleich ganz verlagert. Hier wirkt der IRA als zusätzlicher Pull-Effekt zu den ohnehin niedrigen Strompreisen in den USA. Deutschland und Europa haben also gleich doppelt das Nachsehen: Nicht nur, dass die USA uns zeigen, wie sich die Transformation hin zur Dekarbonisierung skalieren und umfassend und wirkungsvoll gestalten lässt, nein, es sind auch gerade deutsche und europäische Unternehmen, die aufgrund schwieriger Standortbedingungen in Europa ihre Chancen dann eben in den USA wahrnehmen. Wenn wir Wirtschaft und Wohlstand im Land behalten wollen, müssen wir für gute Rahmenbedingungen sorgen, unter denen die Wirtschaft sich zur Treibhausgasneutralität transformieren kann. Dazu gehört ein wettbewerbsfähiger Industriestrompreis, der branchenoffen ist, energieintensive Mittelständler ebenso entlastet wie große Industriekonzerne.

Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesfinanzminister Christian Lindner sind beim Thema Industriestrom zurückhaltend. Sie setzen darauf, dass der Strompreis durch mehr Erneuerbare Energien automatisch sinken wird. Kann die Industrie so lange warten?

Nein, das kann sie nicht. Investitionsentscheidungen werden langfristig getroffen. Und sie werden jetzt getroffen. Unternehmen passen jetzt ihre Investitionspläne für die kommenden Jahre an die absehbaren Rahmenbedingungen an. Mit den hohen Energiepreisen gerät Deutschland beim Standortwettbewerb ins Hintertreffen. Wie ernst das ist, zeigt uns der IRA.

Einig sind Sie sich dagegen beim Ziel, Planungs- und Genehmigungsverfahren deutlich zu beschleunigen. Worauf kommt es dabei an?

Hier haben wir schon lange kein Erkenntnisproblem mehr, sondern ein Umsetzungsproblem. Gleichzeitig ließ sich in den vergangenen Monaten beobachten, wie es auch anders gehen kann: Die Politik ist auf Krisenmanagement umgestiegen. Plötzlich gibt es schlanke, schnelle Genehmigungsverfahren. Dieses „LNG-Tempo“ müssen wir zum Standard in Deutschland machen. Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung müssen wir auch künftig als aktive Standort- und Ermöglichens-Politik begreifen und mit Elementen des klassischen Krisenmanagements angehen.

Für die Verwaltung heißt das z.B., Stabstellen zu schaffen, Leute zusammenzuziehen und die – natürlich rechtskonforme – Projektumsetzung als Ziel des staatlichen Handelns zu begreifen. Außerdem müssen bürokratische Prozesse neu interpretiert werden. Die Schaffung von Schnittstellen und übergreifenden Standards und die Ende-zu-Ende-Digitalisierung sind wesentliche Voraussetzungen für eine moderne Verwaltung und damit für einen agilen und handlungsfähigen Staat. Dass unsere Verwaltung schnell kann, hat sie in zahlreichen Verfahren bewiesen.

Viele nennen den Umbau hin zur Klimaneutralität die „zweite Industrielle Revolution“. Woran entscheidet sich, ob sie gelingt?

Wir sind ja schon mittendrin! Beim Ausbau der Erneuerbaren Energien und der Stromnetze sehen wir Fortschritte, auch wenn wir weiter deutlich schneller werden müssen. Eine Herausforderung stellt der Hochlauf des Wasserstoffsystems dar. Hier gibt es noch viele offene Fragen zu klären, etwa zur Verfügbarkeit von Importen, zur Netz- und Speicherinfrastruktur. Gleichzeitig lässt mich das schnelle Umstellen der Politik auf Krisenmodus ebenso wie die Agilität der Unternehmen in Deutschland zuversichtlich auf die kommenden Jahre blicken. Wir können, wenn wir wollen. Auch das hat 2022 gezeigt.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare