Soziale Politik

Warum wir eine klare Aufgabenteilung zwischen Staat und Markt brauchen

Der Staat hat in den vergangenen Jahrzehnten viel Handlungskapazitäten verloren, sagt der Volkswirt Sebastian Dullien. Für ihn muss der Staat in wichtigen Bereichen der Daseinsvorsoge wieder eine größere Rolle spielen.
von Vera Rosigkeit · 6. Juli 2023
Sebastian Dullien ist Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung
Sebastian Dullien ist Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung

Wie sieht eine Wirtschaftspolitik aus, die das Gemeinwohl und die Rolle des Staates wieder in den Mittelpunkt rückt?

Wirtschaft sollte dafür da sein, das Leben möglichst aller Menschen besser zu machen. Das ist heute nicht immer der Fall. Viele Menschen sind ausgegrenzt, im Niedriglohnsektor gefangen, fühlen sich im Hamsterrad und erleben nicht unbedingt, dass das Wirtschaftswachstum zur individuellen Verbesserung ihres Lebens beiträgt. Um das zu verändern, brauchen wir eine klare Aufgabenverteilung zwischen Staat und Markt. Wir müssen überlegen, welche Dinge wir dem Markt überlassen und welche nicht.

Gibt es Beispiele, wo diese Aufgabenteilung schon heute funktioniert?

Es gibt Maßnahmen, mit denen die Sozialdemokratie in den vergangenen Jahren versucht hat, richtige Weichen zu stellen. Als Beispiel würde ich den Ausbau der Kinderbetreuung sehen. Hier werden Teilhabechancen verbessert, die es Eltern ermöglichen, aktiver am Erwerbsleben teilzunehmen. Gleichzeitig ist die Kinderbetreuung nicht von gewinnorientierten Unternehmen organisiert, die versuchen, möglichst viel Rendite damit zu erwirtschaften. Auch die Mindestlohnerhöhung auf zwölf Euro war ein wichtiger Schritt, um mehr Teilhabe zu erzielen. Hier hat sich gezeigt, dass der Markt eben nicht alles regelt, weshalb der Gesetzgeber eingreifen musste. Ideal funktioniert das derzeit allerdings nirgends, es gibt Verbesserungspotenzial. Der Staat hat in den vergangenen Jahrzehnten eine Menge an Handlungskapazitäten verloren. Das fängt in den Verwaltungen an. Ein Staat, der, um Wohlstand zu verbessern, in die Wirtschaft eingreifen will, muss auch handwerklich handlungsfähig sein, im Sinne einer effizient funktionierenden Verwaltung.

Wie muss sich die Rolle des Staates ändern?

Wir haben Erfahrung mit staatlichen Aktivitäten und eine Tradition, dass der Staat bestimmte Dinge gut machen kann. Als die Deutsche Bundesbahn nach der Wiedervereinigung das gesamte Schienennetz in den neuen Bundesländern ausgebaut hat, war sie noch reiner Staatsbetrieb. Damit hatte sie eine andere Organisationsform, die sich erst mit der Vorbereitung auf die Privatisierung verändert hat. Meiner Wahrnehmung nach hat das besser funktioniert als heute. Es hieß damals „pünktlich wie die Eisenbahn“ und auch die deutsche Verwaltung galt mal als zügig und effizient. Der Staat muss in den wichtigen Bereichen der Daseinsvorsoge wieder eine größere Rolle spielen und eine stärkere Verantwortung übernehmen.

Welche Bereiche der Daseinsvorsoge zählen dazu?

Aktuell haben wir einen massiven Wohnungsmangel in deutschen Ballungsgebieten. Durch die Zinserhöhung der Europäischen Zentralbank wird in den kommenden Jahren aber weniger gebaut. Hier wäre eine stärkere Rolle des öffentlichen Wohnungsbaus wichtig. Aber auch in kommunaler Infrastruktur, in Kinderbetreuung und Schulen muss einfach mehr investiert werden. Für die Energiewende brauchen wir einen massiven Ausbau des Fernwärmenetzes in den Städten. Das kann man nicht dem Privatsektor überlassen, das sollte in den Händen von Stadtwerken oder öffentlichen Unternehmen liegen.

Müsste der Staat deutlich mehr ­investieren als bisher?

Bisher investieren wir ja gar nicht viel, sondern leben seit mehreren Jahrzehnten von der Substanz. Seit den späten 1990er-Jahren haben wir einen Investitionsstau der öffentlichen Hand. In dieser Zeit ist die Wirtschaftsleistung und auch die deutsche Bevölkerung deutlich gewachsen. Aktuell versuchen wir mit einer Infrastruktur, die wir haben verfallen lassen, für noch mehr Menschen zu sorgen. Gleichzeitig stehen wir vor der riesigen Herausforderung der Dekarbonisierung, auch hier muss jetzt investiert werden. Das ist wichtig, weil wir sonst an gesellschaftliche und soziale Kipppunkte kommen, durch die eine Unterstützung für die Klimawende verloren gehen kann. Das, was jetzt investiert wird, reicht bei weitem nicht aus, um die entstandene Lücke aufzufüllen und uns für die Dekarbonisierung fit zu machen.

Nehmen wir die Ungleichheit der Einkommen – welche Rolle kommt hier dem Staat zu, um mehr Gerechtigkeit zu schaffen?

Der Staat muss dafür sorgen, dass es ein Machtgleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt gibt. Das bedeutet, dass man Tarifbindung stärken sollte, wo immer man das kann. Angefangen bei öffentlichen Vergaben, die man an Tariftreue bindet. Man könnte eine Vergabe von Subventionen ebenfalls an tarifgebundene Unternehmen binden. Es gibt auch die Möglichkeit, Tarifverträge in einzelnen Branchen als allgemeinverbindlich zu erklären. Das hilft auch Unternehmen, sich vor Billiglohnkonkurrenz zu schützen. Konkurrenz sollte nicht über Lohndumping, sondern über Qualität oder Prozessinnovation laufen. Das hilft der ganzen Wirtschaft.

Ist die Regierungskoalition hier auf dem richtigen Weg?

Der Koalitionsvertrag sollte die Spielräume schaffen, um das zu finanzieren, was in dieser Legislatur notwendig ist. Nur haben sich Dinge inzwischen geändert. Zum Beispiel sind Baukosten so massiv gestiegen, dass man mit dem gleichen Geld weniger bauen kann. Andere Spielräume sind noch nicht umgesetzt. Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben hat beispielsweise noch keine Kreditermächtigung, um den Wohnungsbau zu unterstützen. Hinzu kommen die Zusatzaufwände durch Verteidigungsausgaben, die Spielräume einengen. Und es wäre wichtig zu wissen, wie es in der kommenden Legislaturperiode weitergeht. Denn wenn die Spielräume bis 2025 ausreichend sind und danach nicht mehr, wird es schwierig. Das Abarbeiten der Investitionslücke, aber auch der Prozess der Dekarbonisierung werden mindestens einen Zeitraum von zehn Jahren in Anspruch nehmen.

Wie sinnvoll ist es angesichts des Ausgabenvolumens an der Schuldenbremse festzuhalten?

Die Schuldenbremse erlaubt viele Möglichkeiten etwa über staatseigene Unternehmen oder auch über Investitionsfonds Kredite aufzunehmen und Investitionen zu tätigen. Da gibt es Spielräume. Grundsätzlich ist die Schuldenbremse aber eine Fehlkonstruktion, weil sie das Ziel, einen handlungsfähigen Staat zu erhalten, nur begrenzt erfüllt. Vielmehr bietet sie einen gewissen Anreiz, dass Politiker*innen eher bei den Investitionen und damit bei Zukunftsaufgaben sparen. In den letzten zwei Legislaturperioden ist vieles in die richtige Richtung bewegt worden. Aber angesichts der Herausforderungen reicht das noch nicht aus.

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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