Soziale Politik

VdK-Präsidentin Bentele: Warum Pflegende mehr Unterstützung brauchen

80 Prozent der Pflegebedürftigen werden zuhause versorgt, häufig von Angehörigen. Die geraten jedoch immer öfter an ihre Grenzen. Woran das liegt und was sich im Sinne der Gesellschaft ändern muss, sagt VdK-Präsidentin Verena Bentele.
von Kai Doering · 11. Mai 2022
Viele wollen ihre Angehörigen zuhause pflegen, stoßen dabei aber an ihre eigenen Grenzen.
Viele wollen ihre Angehörigen zuhause pflegen, stoßen dabei aber an ihre eigenen Grenzen.

Mehr als ein Drittel derjenigen, die Angehörige zuhause pflegen, fühlt sich überlastet. Das hat eine Umfrage im Auftrag des VdK ermittelt. Woran liegt das?

Viele sagen, dass sie die Aufgabe der Pflege, die Nächstenpflege, gerne übernehmen, und meinen das auch so. Aber sie geraten trotzdem an ihre Grenze. Sie haben nämlich oft selbst viele Probleme, gesundheitliche aber auch mit der eigenen Familie. Bei der Veröffentlichung der Studie hatten wir eine pflegende Angehörige dabei, die von ihrer Situation erzählte: Auch ihre Mutter wollte nie ins Heim. Für sie ist es deshalb selbstverständlich, dass sie ihre demente Mutter zuhause pflegt, obwohl sie selbst genug eigene gesundheitliche Probleme hat. Zugleich bekommt sie nicht die Entlastung, die sie bräuchte. Denn die Pflegeleistungen sind zu starr und zu unflexibel.

Gleichzeitig werden vorhandene Entlastungsangebote häufig nicht in Anspruch genommen. Woran liegt das?

Das hat verschiedene Gründe. Zum einen gibt es zu wenig Angebote, zum anderen ist der bürokratische Aufwand, sie zu beantragen, häufig sehr hoch. Ein dritter Grund, warum Hilfe nicht in Anspruch genommen wird, ist, dass sie oft sehr kostenintensiv ist und sich viele die Zuzahlung schlicht nicht leisten können, das erzählte auch unser Mitglied, das  ihre Mutter pflegt. Und wie schon erwähnt, sind die Leistungen zu unflexibel. Hat man etwas gefunden, dass hilft, kann es nur bis zu einer Leistungsgrenze genutzt werden. Will man mehr davon, dann geht das nicht. Außer man öffnet das eigene Portemonnaie. Dafür verfällt das Geld für Leistungen, die man nicht nutzt, weil sie nicht passen. Deshalb fordern wir u.a. ein Nächstenpflegebudget, das unbürokratisch für die Leistungen genutzt werden kann, die wirklich gebraucht werden und mit dem z.B. auch mal ein Nachbar bezahlt werden kann, wenn er beim Einkauf oder dem Hausputz hilft.

Eine weitere Forderung ist eine unabhängige Beratung Pflegebedürftiger bzw. Pflegender. Warum?

Unsere Untersuchung hat herausgefunden, dass viele Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, weil sie nicht bekannt sind. Im Moment werden nach unserer Berechnung allein durch drei nicht genutzte Entlastungsleistungen zwölf Milliarden Euro nicht abgerufen, obwohl sie den Menschen zustehen. Das Pflegesystem gleicht einem Dschungel. Ohne Hilfe ist es undurchdringlich. Nur eine versierte Beratungsperson kann hier helfen, und sie darf keine Eigeninteressen verfolgen. Zudem braucht es Kenntnisse vor Ort, damit auch regionale Angebote, wie ein aktiver Kirchenkreis oder Angebote der Alzheimer Gesellschaft mit angeboten werden können. Geholfen werden muss auch bei der Bürokratie, also dem Ausfüllen der Anträge. Das ist für viele Menschen eine riesige Hürde, die häufig kaum zu überwinden ist.

Welche Rolle spielen finanzielle Gründe dafür, ob sich Menschen entscheiden, Angehörige zuhause zu pflegen?

Man muss sich das gut überlegen, wenn man für die Pflege den Beruf aufgibt. Es ist ein Riesenproblem, dass es noch immer keine Lohnersatzleistung für Menschen gibt, die Angehörige pflegen. Vorschläge und Ideen dafür liegen ja bereits vor. Jetzt muss die Politik sie umsetzen, um es allen Menschen, die es wollen, zu ermöglichen, Angehörige zu pflegen, ohne dabei von Armut bedroht oder betroffen zu sein..

Könnte das Elterngeld ein Vorbild sein?

Ja, auf jeden Fall. Wichtig dabei ist, dass nicht wieder die hinten runterfallen, die vorher schon zu den Geringverdienern zählen. Das sind aber diejenigen, die sich am häufigsten für die Nächstenpflege entscheiden. Wenn sich Menschen um die Pflege eines Angehörigen kümmern wollen, darf es nicht am Geld scheitern. Pflege muss der Gesellschaft etwas wert sein – gerade, wenn man bedenkt, dass rund 80 Prozent der Pflegebedürftigen nicht in einer Einrichtung, sondern zuhause gepflegt werden. Das ist der große Wunsch einer breiten Mehrheit. Deshalb ist jetzt eine gute Zeit, die Nächstenpflege mit besseren Rahmenbedingungen zu ermöglichen.

Warum wollen die Menschen zuhause gepflegt werden?

Ein ganz wichtiger Grund ist, dass die Menschen zuhause selbstbestimmter leben können. Dort müssen sie nicht aufstehen oder essen, wenn es einer Einrichtung am besten in den Tagesablauf passt. Diese Art von Fremdbestimmung wollen viele Menschen nicht, was ich auch gut verstehen kann. Zudem muss man sich bei einem Einzug ins Heim von vielen lieb gewonnenen Dingen trennen. Das empfinden viele als Abschied von ihrem Leben. Auch das Umfeld wie Nachbarn und Freunde sind dann nicht mehr so gut erreichbar, mitunter gar nicht mehr.

Zur Entlastung Pflegender fordert der VdK einen Rechtsanspruch auf einen Platz in der Tagespflege, ähnlich einem Kita-Platz für Eltern. Was nutzt der Anspruch, wenn es nicht genügend Plätze gibt?

Wir können doch nicht erst warten, bis es ausreichend Plätze gibt und dann erst einen Rechtsanspruch schaffen. Bei der Kinderbetreuung wurde auch erst der Rechtsanspruch geschaffen und mit Blick darauf massiv die Infrastruktur aufgebaut. Anders wird es auch in der Pflege nicht gehen. Die Tagespflege ist nicht so lukrativ für die Anbieter. Mit flexiblen Angeboten zu kalkulieren, ist für sie schwierig, ganz klar – gerade, wenn sie renditeorientiert arbeiten. Da muss sich also in der Pflegelandschaft etwas ändern.

Der Pflegereport der Bertelsmann-Stiftung sagt voraus, dass die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2050 um die Hälfte steigen wird. Gleichzeit fehlen schon jetzt Pflegekräfte. Ist der Pflege-GAU überhaupt noch aufzuhalten?

Die Entwicklung ist nicht aufzuhalten. Wir müssten im Jahr 2035 jeden achten Auszubildenden in die Pflege bringen, damit wir die Versorgung sicherstellen können. Das ist doch utopisch. Aber wir können die Pflege anders gestalten, sie auf breitere Füße stellen, durch kommunale Angebote eine bessere Struktur schaffen. Deshalb müssen wir jetzt die häusliche Pflege stärken. Wir sprechen übrigens bewusst von „Nächstenpflege“, weil viele Menschen mit großer Hingabe diese Aufgabe übernehmen. Nicht mehr nur die Familienangehörigen. Diese Menschen müssen wir stärken – auch im Interesse der Gesellschaft. Der Pflege-GAU lässt sich nur abwenden, wenn wir gute Rahmenbedingung für die Pflege zu Hause schaffen.

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Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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