SPD: Menschen mit Behinderungen müssen sich frei bewegen können
Angelika Glöckner / Marco Urban
Der Koalitionsvertrag legt den bei Menschen mit Behinderungen einen Schwerpunkt auf die Arbeitsmarktintegration. Warum ist dieser Schwerpunkt so wichtig?
Arbeit ist ein sehr wichtiges Thema für Menschen mit Behinderungen. Es geht um feste Strukturen im Alltag, um Wertschätzung, aber natürlich auch darum, ausreichend Geld zu verdienen um selbstbestimmt leben zu können. Das sieht leider in der Realität bei Menschen mit Behinderung ganz anders aus. Sie finden immer noch viel schwieriger einen Arbeitsplatz, obwohl sie vielfach sehr gut qualifiziert sind. Genau deshalb brauchen wir diesen Schwerpunkt.
Wie sehen die Instrumente für eine bessere Integration auf dem Arbeitsmarkt aus?
Wir werden das Budget für Arbeit und für Ausbildung stärken. So können Menschen im Arbeitsprozess noch bessere individuelle Unterstützung erhalten, beispielsweise durch das Dolmetschen in Gebärdensprache. Wir wollen mehr Möglichkeiten anbieten, alternativ zur Werkstatt eine Ausbildungen zu machen. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber erhalten einerseits einen Kostenzuschuss, ihnen sollen aber andererseits auch, ebenso wie den Auszubildenden, Formalitäten abgenommen werden. Dafür wollen wir die einheitlichen Ansprechstellen für Unternehmen weiterentwickeln, um beispielsweise Behördengänge zu erledigen. Besonders kleine Betriebe haben Angst vor zu hohem Aufwand und scheuen eine Einstellung, weil sie nicht wissen, was da auf sie zukommt. Durch die Maßnahmen wollen wir ihnen diese Angst nehmen.
Die Rede ist u.a. von einer vierten Stufe der Ausgleichsabgabe. Was ist damit gemeint?
In Deutschland sind Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber generell verpflichtet, ab einer bestimmten Anzahl Beschäftigter Menschen mit Behinderungen einzustellen. Tun sie das nicht oder nicht in ausreichender Anzahl, müssen sie eine Ausgleichsabgabe zahlen. Bislang belief sich diese Abgabe auf einen Wert zwischen 140 und 360 Euro, verteilt auf drei Stufen. Wir haben festgestellt, dass Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber lieber die Ausgleichsabgabe zahlen als Menschen mit Behinderungen einzustellen. Deshalb wollen wir in einer vierten Stufe für Betriebe einführen, die keinen einzigen Menschen mit Behinderung eingestellt haben. Dadurch wollen wir den Druck auf Unternehmen erhöhen. Um das zu erreichen, wird die vierte Stufe auf jeden Fall spürbar teurer sein und das ist auch notwendig.
Wofür sollen die Einnahmen der Ausgleichsabgabe verwandt werden?
Die Mittel aus der Ausgleichsabgabe fließen direkt in die Unterstützung für Maßnahmen am allgemeinen Arbeitsmarkt, also zum Beispiel in begleitende Assistenzen.
Wie soll sich das Entgeltsystem in den Werkstätten für behinderte Menschen ändern?
Bei unseren Gesprächen mit den Werkstatträten wurde immer wieder klar, dass unsere Werkstattentgelte aus zu vielen Bestandteilen bestehen. Da sich ein solches Entgelt aus unterschiedlichen Töpfen zusammensetzt, gibt es zu wenig Transparenz. Da suchen wir nach Möglichkeiten, das zu ändern. Gleichzeitig fühlen sich die Beschäftigten in den Werkstätten als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, werden aber nicht als solche vergütet. Auch diese Frage wollen wir klären, nämlich wie wir Menschen so finanzieren können, dass sie in den Werkstätten ein auskömmliches Einkommen haben. Gleichzeitig dürfen wir die Werkstätten finanziell nicht überfordern. Hierzu haben wir bereits in der vergangenen Legislatur eine wissenschaftliche Expertise auf den Weg gebracht. Auf Basis der Ergebnisse wollen wir das Entgelt reformieren.
Künftig soll ein digitaler Teilhabeausweis den klassischen Schwerbehindertenausweis ersetzen. Sind damit Änderungen verbunden?
Der Teilhabeausweis soll Stück für Stück digitalisiert werden, so dass Menschen mit Behinderungen Leistungen auch in leichter und verständlicher Sprache von zu Hause aus beantragen können. Wenn möglich, mit so wenig fremder Hilfe wie möglich. Dieser Schritt hilft erste Barrieren abzubauen. Zudem ist eine Namensänderung nötig. Denn es geht hier nicht um einen Menschen, der stigmatisiert werden soll, weil er oder sie eine Behinderung hat, sondern um einen Menschen, der trotz Einschränkung das Ziel der Teilhabe hat.
Auch im Bereich Mobilität soll sich einiges tun. Dazu will die Regierung ein Bundesprogramm Barrierefreiheit auflegen? Können Sie Beispiele für einige Vorhaben nennen, die sich dahinter verbergen?
Mobilität ist ein sehr wichtiger Aspekt der Barrierefreiheit. Unabhängig von der Frage der Beeinträchtigung müssen sich Menschen frei bewegen können. Ganz gleich, in welcher Region ich lebe, muss es mir möglich sein, Nah- aber auch Fernverkehr zu nutzen. Das fängt bei barrierefreien Bahnhöfen an. Aber auch wenn ich aus dem Haus in eine Apotheke gehe, brauche ich ein Gebäude ohne Stufen oder ich brauche Leitsysteme für blinde Menschen. Hier wollen wir in Förderprogrammen des Bundes investieren, möglichst so, dass es nicht barrierearm, sondern barrierefrei ist.
Welche Maßnahmen sind aus ihrer Sicht ebenfalls wichtig?
Wichtig wäre, dass sich Menschen mit Behinderungen überall in Europa bewegen können. Dass wir einen europäischen Teilhabeausweis bekommen, damit sie grenzübergreifend reisen können und vor Ort gleiche Bedingungen vorfinden. Gut wäre auch ein europäischer Behindertenbeauftrage oder Behindertenbeauftragten einzuführen, die oder der dafür sorgt, dass Gesetzentwürfe der europäischen Kommission auf Barrierefreiheit und Inklusion hin überprüft werden. Wir haben also noch viel zu tun.
hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.