SPD-Kanzlerkandidat Scholz will „Angriffen auf den Sozialstaat“ entgegentreten
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Die Corona-Pandemie erschüttert Staat und Gesellschaft wie nichts zuvor in den vergangenen Jahrzehnten. Sie erschüttert auch das Vertrauen vieler Deutscher in ihren Staat. Umso wichtiger ist es der SPD, dass sich in dieser Vertrauenskrise der Sozialstaat als zuverlässig und zukunftsfähig erweist. Wie genau das erreicht werden kann, darum geht es auf der „Digitalkonferenz zur Zukunft des Sozialsystems“ des Wirtschaftsforums der SPD am Dienstag nach Ostern.
Im Mittelpunkt steht dabei SPD-Kanzlerkandidat und Vizekanzler Olaf Scholz. Er nimmt sich in seinem Impulsreferat die konservativen und neoliberalen Kritiker*innen des Sozialstaates vor. Diese hätten bereits in den 1990er Jahren die Finanzierbarkeit des Sozialstaates in Frage gestellt und seinen massiven Rückbau gefordert. Doch alle ihre Annahmen von einer sinkenden Zahl an Einwohner*innen, Arbeitnehmer*innen und sozialversicherungspflichtig Beschäftigten sowie von steigenden Sozialbeiträgen hätten sich für Deutschland als falsch herausgestellt. So werde es auch in den 2020er Jahren sein – vorausgesetzt die Bundesrepublik nutze ihre Potentiale für eine höhere Beschäftigungsquote von Älteren, Frauen und Migrant*innen. „Was wir nicht brauchen, sind konservative und liberale Skeptiker des Sozialstaats, die uns jetzt schon wieder vorrechnen, dass das alles nicht finanzierbar ist“, so Scholz. „Sie werden sich heute genau so verrechnen, wie vor 20, 30 Jahren und wir sollten ihnen nicht folgen.“
Neoliberale wollen Sozialstaat wegen Corona-Schulden abbauen
Dass das nicht ganz so einfach werden könnte, betont Matthias Machnig, der Vizepräsident des Wirtschaftsforums der SPD. Er verweist auf die aktuelle Berichterstattung der internationalen Wochenzeitung „The Economist“. Das Blatt fordere angesichts der wachsenden Staatsverschuldung als Folge der Corona-Pandemie das Leistungsniveau des Sozialstaats deutlich zurückzufahren. Diese Frage werde die nächsten Jahre bestimmen, prognostiziert Machnig. Und deshalb wünscht er sich, dass die SPD dies stärker thematisiert – besonders im anstehenden Bundestagswahlkampf.
Kanzlerkandidat Olaf Scholz lässt keinen Zweifel an seiner Position in dieser Frage: „Den konservativen Angriffen, die jetzt auf den Sozialstaat kommen, muss entgegengetreten werden.“ Jeder Einschränkung sozialstaatlicher Leistungen erteilt er eine klare Absage. Sie gefährde nicht nur das Vertrauen der Bürger*innen, sondern auch die ökonomische Stabilität. „Die These, dass alles nicht finanziert werden kann, ist falsch.“
Olaf Scholz: „Großer Reformmoment“
Diese Behauptung der Neoliberalen sei im übrigen auch „international rückläufig“: So planten die USA eine Erhöhung ihrer Bundessteuern für Unternehmen von 20 auf 28 Prozent, Großbritannien wolle eine Erhöhung der Unternehmenssteuern um knapp 30 Milliarden Pfund pro Jahr. Für den SPD-Kanzlerkandidaten ein klares Zeichen: „Die Zeit ist vorbei, in der ein Dumping-Wettbewerb stattfindet.“ Die EU, die USA und Großbritannien seien hier zunehmend auf einer gemeinsamen Linie. Noch in diesem Sommer sei eine Einigung auf eine globale Mindestbesteuerung der 140 OECD-Länder möglich. „Damit sind all diese konservativen und wirtschaftsliberalen Spekulationen widerlegt“, so Scholz.
Dass sich der Sozialstaat angesichts der Corona-Krise ganz neuer Wertschätzung erfreut, zeigt auch die Debatte der Digitalkonferenz des SPD-Wirtschaftsforums. Gleich mehrere Vertreter*innen von Selbstständigen-Verbänden fordern hier vom Vizekanzler eine bessere Einbeziehung in die sozialstaatlichen Sicherungssysteme. Dass Selbstständige, die bisher nie danach gefragt hätten, dies angesichts von Corona dies nun tun, ist für Olaf Scholz „ein großer Reformmoment“. Den gelte es jetzt zu nutzen.
Sozialstaat „nicht nur eine Sache für arme Leute“
Der SPD-Kanzlerkandidat schlägt für Selbstständige eine freiwillige und beitragsfinanzierte Absicherung gegen Arbeitslosigkeit vor. Nötig sei auch eine „Rentenperspektive“ für Selbstständige, die sie unabhängig von öffentlicher Unterstützung am Ende ihres Erwerbslebens mache. Das Sozialsystem müsse fair und gerecht für alle funktionieren – auch für die Selbstständigen, betont Scholz. Es sei „nicht nur eine Sache für arme Leute“, sondern ein „Bekenntnis zu einer solidarischen Kultur“, in der man auch unternehmerisch mutig und zugleich abgesichert sein könne.
Der Sozialstaat sei „ein wertvolles Kulturgut aus Deutschland“, betont der Vizekanzler. So sei die deutsche Kurzarbeiterregelung, die sich bereits in der Bankenkrise hervorragend bewährt habe, „ein Exportprodukt“ für andere EU-Staaten und darüber hinaus geworden. International werde es inzwischen als „eines der effizientesten Mittel der Krisenbewältigung“ bezeichnet.
Helmut Schmidt hatte Recht
Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt habe Recht gehabt, so Scholz, als er den deutschen Sozialstaat „eine der größten Errungenschaften“ neben der Demokratie genannt habe. Deshalb sei es auch so wichtig, ihn zu erhalten und wo nötig zu reformieren. Entscheidend sei dabei die Frage der Erwerbstätigkeit, denn sie bestimme die Höhe der Beiträge für die sozialen Sicherungssysteme. Der Mindestlohn sei hier wichtig, weil er die Voraussetzungen schaffe, im Alter von der Rente leben zu können – ohne staatliche Unterstützung. Das gleiche gelte für die Tarifbindung, die in Deutschland wieder zunehmen müsse.
Eine Schlüsselfrage für die Zukunftsfähigkeit des Sozialstaates ist für den SPD-Kanzlerkandidaten die Qualifizierung der Erwerbstätigen. Es müsse möglich sein, sich auch in höherem Alter nicht nur weiter zu qualifizieren, sondern sich gegebenenfalls auch komplett neu zu qualifizieren. Ein „Bürgerrecht auf Qualifizierung“ sei nötig.
Scholz: „Sozialstaat ist für die Zukunft unverzichtbar“
Wer den Sozialstaat in Frage stelle, argumentiert Scholz, sollte eines bedenken: Auch ohne Sozialstaat würden sich die, die es sich leisten könnten, versichern gegen die Risiken im Alter oder bei Gesundheit und Pflegebedürftigkeit. Das würde dann aber, wie in den USA zu beobachten, höhere Beiträge und niedrigere Leistungen bedeuten. Für Scholz ist klar: „Der solidarische Sozialstaat ist günstiger und zukunftsträchtiger als privatwirtschaftliche Systeme.“ Der SPD-Kanzlerkandidat lässt keinen Zweifel: „Meine Überzeugung ist, der Sozialstaat ist zukunftsfähig und für die Zukunft unverzichtbar, in einer Welt die sich noch rasanter verändern wird.“