Soziale Politik

Serpil Midyatli: Wie die SPD Familien besser unterstützen will

Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Serpil Midyatli will, dass Familien mehr Zeit füreinander haben. Bei der Kindergrundsicherung ist aus ihrer Sicht das letzte Wort noch nicht gesprochen.
von Kai Doering · 22. September 2023
Serpil Midyatli ist stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende.
Serpil Midyatli ist stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende.

Ende August hat die Bundesregierung die lange erwarteten Eckpunkte für eine Kindergrundsicherung vorgelegt. Sind Sie zufrieden?

Die SPD setzt sich ja schon sehr lange für die Einführung einer Kindergrundsicherung ein. In den vergangenen Jahren konnte aber nur an einigen Stellschrauben gedreht werden, weil es nicht die politischen Mehrheiten gab. Gemessen daran können wir als Sozialdemokraten mit den jetzt vorgelegten Eckpunkten nicht zufrieden sein. Im parlamentarischen Verfahren erhoffe ich mir da noch Verbesserungen. Gut ist, dass Bundeskanzler Olaf Scholz deutlich gemacht hat, dass die Kindergrundsicherung in dieser Legislatur kommt. Wichtig ist aus meiner Sicht auch die Zusage, dass das soziokulturelle Existenzminimum neu berechnet werden soll. Allen sollte klar sein: Eine Kindergrundsicherung light braucht kein Mensch.

Was ist für die SPD der zentrale Punkt der Kindergrundsicherung?

Es geht darum, alle Kinder in Deutschland aus der Armut zu holen. Dabei stehen nicht nur finanzielle Fragen im Mittelpunkt, sondern genauso auch Teilhabe und Partizipation. Kinder und Jugendliche müssen wieder mehr Chancen bekommen. Das Versprechen der SPD war ja lange Aufstieg durch Bildung. Das gilt nach wie vor, aber heute würde ich es weiter fassen mit Aufstieg durch Chancen.

Ist das allein eine finanzielle Frage?

Nein. Genauso wichtig sind institutionelle Verbesserungen. Wir brauchen zum Beispiel eine gute, verlässliche und kostenfreie Kinderbetreuung. Manche Bundesländer sind da schon recht weit, andere hinken deutlich hinterher. Und auch Mobilität ist Teilhabe. Wenn Menschen nicht mobil sein können, werden sie schnell ausgegrenzt. Das gilt für Familien besonders. Wie das durchbrochen werden kann, haben wir beim 9-Euro-Ticket gesehen.

Sozialverbände kritisieren die für die Kindergrundsicherung veranschlagten 2,4 Milliarden Euro als zu gering. Wie sehen Sie das?

Diese Summe ist vom jetzigen Stand aus schwer zu bewerten. Entscheidend ist, dass die Kindergrundsicherung jetzt kommt und dazu geeignet ist, Kinder aus der Armut zu holen. Wie viel Geld dafür notwendig sein wird, muss jetzt noch errechnet werden, vor allem über die Neuberechnung des soziokulturellen Existenzminimums. Ich sage aber auch ganz deutlich: Wenn das eingeplante Geld nicht ausreicht, muss es aufgestockt werden, auch wenn dafür vielleicht die Einnahmenseite erhöht werden muss. In einem reichen Land wie Deutschland muss jedes Kind das Recht haben, glücklich und zufrieden aufzuwachsen.

Neben finanzieller Armut leiden immer mehr Familien unter Zeitarmut. Wie kann die Politik dafür sorgen, dass Familien wieder mehr Zeit füreinander haben?

Eine ganz wichtige Stellschraube ist die Arbeitszeit der Eltern. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass Eltern ihre Arbeitszeit vorübergehend reduzieren können. Ich persönlich bin auch eine starke Verfechterin der 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich und denke, wir müssen eine gesellschaftliche Debatte über eine neue Vollzeit führen. 40 Stunden sind einfach nicht mehr zeitgemäß. Der Staat sollte auch die Elternzeit noch attraktiver gestalten und das Elterngeld weiterentwickeln, um noch mehr Anreize zu schaffen, die Arbeitszeit partnerschaftlich zu reduzieren. Als SPD haben wir mit dem 6+6+6-Modell ja gerade einen Vorschlag gemacht.

Wie soll die Elternzeit künftig aussehen?

Mit unserem Vorschlag wollen wir eine weitere Wahlmöglichkeit schaffen. Bisher ist es häufig so, dass von den 14 Monaten, in denen Elterngeld bisher bezogen werden kann, die Mütter zwölf Monate beantragen und die Väter lediglich zwei. Man spricht deshalb ja auch umgangssprachlich häufig von den „Vätermonaten“. Deshalb haben wir das 6+6+6-Modell entwickelt: Jeder Elternteil kann damit jeweils sechs feste Monate Elterngeld beziehen. Die übrigen sechs können die Elternteile frei unter sich aufteilen. Das gilt natürlich auch für Alleinerziehende.

In den letzten sechs Monaten soll dann das Elterngeld auf 80 Prozent des vorherigen Lohns erhöht werden. Warum?

Elternzeit zu nehmen und Elterngeld zu beantragen ist für viele Familien auch eine finanzielle Entscheidung. Viele müssen gut rechnen, ob sie für eine Zeit mit weniger Geld zurechtkommen. Deshalb sagen wir: Wir helfen euch, partnerschaftlich zu entscheiden, also eine gleich lange Elternzeit von Mutter und Vater zu planen, indem wir die Lohnersatzleistung in den letzten sechs frei verteilbaren Elterngeldmonaten auf 80 Prozent anheben. Das macht es leichter, auf das meist höhere Einkommen des Vaters zu verzichten.

Einige Väter sollen regelrecht Angst davor haben, ihre Chefin oder ihren Chef um Elternzeit zu bitten, auch wenn sie einen rechtlichen Anspruch darauf haben. Wie kann ihre Position zusätzlich weiter gestärkt werden?

Die beste Stärkung ist, wenn möglichst viele Männer Elternzeit in Anspruch nehmen. Letztlich kann die Politik nur den Rahmen setzen, den Eltern und Betriebe dann ausfüllen müssen. Das versuchen wir mit dem neuen Modell. Ich kann jeden Vater nur ermutigen, Elternzeit zu nehmen, denn das ist eine ganz besondere Zeit. Ich höre aber auch von immer mehr Unternehmen, die von sich aus auf ihre Mitarbeiter zukommen und sie fragen, ob sie nicht in Elternzeit gehen wollen. Die Akzeptanz ist seit der Einführung des Elterngelds 2007 deutlich gewachsen.

Gleichzeitig macht sich die SPD für die Abschaffung des Ehegattensplittings für künftige Ehen stark. Warum?

Weil das Geschlechterbild, das das Ehegattensplitting abbildet, nicht mehr zeitgemäß ist und in den allermeisten Fällen die Frau benachteiligt. Bei ihnen macht sich das besonders später bei der Rente bemerkbar. Das Ehegattensplitting hält auch aktiv Frauen vom Arbeitsmarkt fern. Das ist etwas, das wir uns auch als Gesellschaft nicht leisten können. Wir wollen stattdessen ein Modell entwickeln, das die Familien in den Mittelpunkt stellt und das gerechter ist. Wir sollten Paaren die Möglichkeit geben, ihre Arbeitszeiten so zu gestalten, wie sie es sich wünschen, ohne dadurch steuerlich benachteiligt zu werden.

In und nach der Corona-Pandemie wurde der Vorwurf laut, die Politik habe die Familien vergessen. Welche Lehren sollte sie daraus ziehen?

Eine verlässliche Kinderbetreuung ist das A und O. Leider wurden da während der Corona-Pandemie tatsächlich viele Fehler gemacht – vor allem, weil man es einfach nicht besser wusste. Eine ganz wichtige und große Aufgabe ist deshalb der Ganztagsausbau für Schulen. In Grundschulen wird es hier ab 2026 ja auch einen Rechtsanspruch geben, den wir mit Leben füllen müssen. Dafür braucht es ausreichend Erzieherinnen und Erzieher, was in Zeiten des Fachkräftemangels keine ganz leichte Aufgabe ist. Ganz entscheidend ist auch die Möglichkeit für Familien, zur Entlastung Haushaltshilfen in Anspruch zu nehmen. Das würden wir gerne deutlich ausweiten, wie es in anderen Ländern schon seit Jahren die Regel ist.

Was nehmen Sie sonst mit Blick auf Familien aus der Corona-Zeit mit?

Kinder brauchen Kinder. Das hat die Corona-Zeit uns allen nochmal ganz deutlich vor Augen geführt. Die Schule ist eben nicht nur eine Lehreinrichtung, sondern auch ein wichtiger sozialer Raum, in dem Kinder zusammenkommen und sehr viel voneinander lernen. Gleiches gilt für die Freizeit. Leider haben wir während der Pandemie einiges falsch eingeschätzt, weil uns die Erfahrung fehlte und der Gesundheitsschutz natürlich vorging. Die Folgen werden wir erst in den kommenden Jahren spüren. Klar ist: Familien brauchen mehr Unterstützung. Gerade sie haben unter der Corona-Krise besonders gelitten. Sie gehören deshalb unbedingt in den Mittelpunkt der Politik.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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