Soziale Politik

Corona zeigt: Gesundheitsversorgung ist eine kollektive Aufgabe

Die Corona-Pandemie ist eine Katastrophe, die uns vielleicht die Augen dafür öffnet, Gesundheit als eine kollektive, solidarische und ethische Aufgabe zu verstehen.
von Remi Maier-Rigaud · 15. März 2021

Gesundheit wurde in der letzten Dekade zunehmend als individuelle Aufgabe wahrgenommen. Der „gesunde“ Lebensstil war eine private Angelegenheit, und die Entwicklung von Fitnessapps trug zum Kult um den gesunden Körper bei. Die Pandemie bietet Gelegenheit, dieses individualisierte Bild von Gesundheit zu korrigieren. Sie führt zu der Erkenntnis, dass wir eine Solidargemeinschaft sind und sein müssen, wenn wir vor großen Herausforderungen bestehen wollen.

Was die Pandemie zeigt

Der Zugang zur Gesundheitsversorgung in Deutschland ist grundsätzlich universell, niederschwellig (räumlich, aber auch in Bezug auf nur geringe Zuzahlungen der Patient*innen) und qualitätsgesichert. Auch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und das Krankengeld sind ein sozialpolitischer Systemvorteil in Krisenzeiten. Hier ist ein Blick in die USA erhellend, wo der krisenbedingte Jobverlust häufig mit einem Verlust der betrieblichen Krankenversicherung einhergeht und damit die existenziellen Risiken schnell kumulieren.

Eine marktliche Steuerung des Gesundheitssystems ist auf Effizienz ausgelegt, d.h. freie Kapazitäten sind schlicht unwirtschaftlich im Wettbewerb. Dagegen haben Gesundheitssysteme, die staatlich oder als Sozialversicherung organisiert sind, den Vorteil, nicht nur Intensivbetten, sondern auch personelle und weitere Ressourcen für Krisenfälle vorhalten zu können. In welche Richtung könnte das deutsche Gesundheitssystem vor dem Hintergrund der Pandemie weiterentwickelt werden?

Die Pandemie zeigt, wie wichtig die Überprüfung von Qualitätsstandards bei Produkten und Dienstleistungen im Gesundheitswesen ist. Diese sind im Regelfall Vertrauensgüter, bei denen Märkte allein kein Garant für eine hochwertige Versorgung sind. So sind die Klassifikation von Medizinprodukten und die Zulassungsprüfung sowie Nutzenbewertung von Arzneimitteln typische öffentliche Aufgaben. Dabei geht es darum, den medizinischen Nutzen solidarisch finanzierter Gesundheitsleistungen sicherzustellen. Deshalb wäre eine bereits vor Jahren geplante Ausweitung der Nutzenbewertung von Arzneimitteln auf den Bestandsmarkt genauso wichtig, wie eine evidenzbasierte Nutzenbewertung von digitalen Gesundheitsanwendungen (sogenannte „App auf Rezept“).

Zwei-Klassen-Versorgung abschaffen

Neben einem verantwortungsvollen Umgang mit den Ressourcen des Gesundheitswesens, ist auch das Gerechtigkeitsempfinden der Patient*innen zu beachten. Die erheblichen Unterschiede beim Zugang zu Fachärzt*innen (Wartezeiten) zwischen gesetzlich und privat Versicherten erzeugen berechtigterweise das Gefühl einer Zwei-Klassen-Versorgung. Um vom Versicherungsstatus abhängige Versorgungsunterschiede, darunter auch die Überversorgung von Privatpatienten zu vermeiden, ist eine Vereinheitlichung der Vergütung vorzunehmen.

Einen Schritt weiter gedacht ist eine einheitliche Krankenversicherung für alle Bürger*innen sinnvoll. Gesundheit ist ein Grundrecht und sollte allen zuteilwerden. Warum also ein substitutives System aus privater und gesetzlicher Krankenversicherung aufrechterhalten? Hier gibt es viele Vorschläge und keineswegs muss es eine Einheitsversicherung sein. Nach wie vor könnten gesetzliche Krankenkassen untereinander im Wettbewerb stehen.

Nicht zuletzt sind die Ausgaben im Gesundheitswesen auszuweiten. Die seit den 1970er Jahren weitgehende Konstanz der Gesundheitsausgaben im Verhältnis zur wirtschaftlichen Entwicklung ist höchst problematisch für eine alternde Gesellschaft. Eine solche Gesellschaft fragt allein schon wegen des medizinisch-technischen Fortschritts mehr Gesundheitsleistungen nach, als es dem Wachstum des Sozialprodukts entspricht. Das deutsche Gesundheitssystem ist im individualmedizinischen Bereich relativ gut aufgestellt, aber im kollektiven, bevölkerungsbezogenen Bereich fehlen Ressourcen, also genau da, wo Gesundheit ein öffentliches Gut ist.

Öffentlichen Gesundheitsdienst stärken

Entsprechend sollte der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) als dritte Säule unseres Gesundheitswesens neben ambulanter und stationärer Versorgung gestärkt werden. Derzeit arbeiten ca. 2.500 Ärzt*innen im ÖGD. Dies ist sehr wenig im Vergleich zu den über 366.000 Ärzt*innen im ambulanten und stationären Bereich. Die im Rahmen des Bund-Länder-Pakts bis 2026 bereitgestellten vier Milliarden Euro für den Ausbau des ÖGD sind ein erster Schritt, dürften aber nicht ausreichen für die wachsenden Aufgaben der Aufklärung, Prävention, Gesundheitsberichterstattung und natürlich der Pandemiebekämpfung vor Ort durch die Gesundheitsämter.

Soziale Distanzierungsmaßnamen und das Tragen einer Mund-Nasenbedeckung sind das ikonografische Signum der Corona-Pandemie. Sie haben den Charakter von Gesundheit als öffentliche Aufgabe und öffentliches Gut stärker ins Bewusstsein gerufen. Die kollektive Perspektive, für die Gemeinschaft positives Verhalten in den Vordergrund zu stellen, wird in kapitalistischen Wirtschaftsordnungen unzureichend gelebt. Der globale Siegeszug kapitalistischen Wirtschaftens hat tendenziell privaten Reichtum befördert (bei ungleicher Verteilung), während öffentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge vielfach auf das Nötigste beschränkt blieben.

Dieses Ungleichgewicht zwischen privatem und öffentlichem Reichtum hat bereits der Ökonom John Kenneth Galbraith in seiner Gesellschaftsanalyse der USA vor über 60 Jahren kritisiert. Das Ungleichgewicht zwischen privater individualmedizinischer Versorgung und kollektiven, bevölkerungsbezogenen Maßnahmen der Prävention hat die Corona-Pandemie ins grelle Licht existenzieller Entscheidungen über Leben und Tod befördert.

Mehr staatliches Gestalten im Gesundheitswesen

Das bedeutet nicht zwingend mehr Staat im Gesundheitswesen, sondern in erster Linie mehr kollektives Handeln wie etwa durch die selbstverwalteten Sozialversicherungsträger. Gesundheit ist immer, aber besonders in Zeiten einer Pandemie ein globales öffentliches Gut, weshalb auch keine Alternative zu einer öffentlichen Antwort besteht. Um Trittbrettfahrer bei der Bekämpfung der Pandemie zu vermeiden, ist wenn nicht eine globale, so zumindest eine europäische Antwort notwendig. Die EU hat genau da ihre gesundheitspolitische Kernaufgabe, wo es um grenzüberschreitende Gefahren geht und diesen eben schlagkräftiger gemeinsam auf europäischer Ebene begegnet werden kann.

Die Pandemie ist eine Katastrophe, die uns vielleicht die Augen öffnet, um Gesundheit als kollektive, solidarische und ethische Aufgabe zu verstehen. Wir benötigen nicht Verstaatlichung, sondern mehr staatliches Gestalten im Gesundheitswesen, damit bevölkerungsbezogene Maßnahmen gestärkt und eine Gesundheitsversorgung für alle nach dem medizinischen Bedarf zur Verfügung steht, die von allen entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit finanziert wird. Dies wäre ein gesundheitspolitischer Grundkonsens, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken würde.

Der Beitrag ist Teil einer E-Paperreihe der Friedrich-Ebert-Stidtung zum Thema: Demokratie im Ausnahmezustand. Wie verändert die Corona-Krise Recht, Demokratie und Gesellschaft?

Autor*in
Remi Maier-Rigaud

ist Volkswirt und Professor für Sozialpolitik an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Er leitet den Studiengang Nachhaltige Sozialpolitik (B.A.).

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