Bürgergeld auf Tour: Wie die Abschaffung von Hartz-IV vor Ort ankommt
Die Frau auf dem grauen Sessel hat viele Fragen. Etwa, was das Bürgergeld für Menschen ohne Berufsabschluss biete. Oder wie hoch die Summe für Fortbildungen sein soll. Annika Klose beugt sich leicht zu ihr und antwortet geduldig, die Besucherin schreibt sich vieles auf. Als sie aufsteht und gehen will, drückt ihr Klose noch schnell einen Flyer in die Hand. „Das Bürgergeld kommt“ steht darauf. In kurzen Stichpunkten erklärt Klose dort, was sich durch die Reform der Sozialgesetze ändern wird. „Wir wollen Hartz IV nicht einfach umbenennen“ prangt in großen Lettern auf der Vorderseite.
„Hartz IV und Leiharbeit. Es tut mir leid!“
Es gibt in diesen Tagen viel zu erklären für Annika Klose. Die 30-Jährige Sozialdemokratin sitzt seit vergangenem Jahr im Bundestag. Ihr Wahlkreis ist Berlin-Mitte. Dort ist sie im Moment aber wenig anzutreffen. Denn Klose ist auf Bürgergeld-Tour. Als Berichterstatterin der SPD-Fraktion beschäftigt sie sich seit Monaten mit der „größten Sozialreform seit 20 Jahren“ wie sie sagt. Es geht um nicht weniger als ein Ende des Hartz-IV-Systems, das die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder vor 20 Jahren einführte und das die SPD zumindest zeitweise in eine Sinnkrise gestürzt hat. Annika Klose will erklären, was sich ändert. Vor allem aber will sie zuhören, was die Menschen bewegt und ihre Ideen aufnehmen. Denn nach der Sommerpause soll der Gesetzentwurf für das Bürgergeld im Bundestag beraten werden. Das Bürgergeld soll zum 1. Januar 2023 in Kraft treten.
„Annika arbeitet im Maschinenraum an der offenen Wunde der SPD“, stellt Erik von Malottki seine Kollegin vor Ort vor. Auch er zog im vergangenen Jahr erstmals in den Bundestag ein, vertritt den Wahlkreis Mecklenburgische Seenplatte I – Vorpommern-Greifswald II. Im Wahlkampf hängte er Plakate auf mit dem Satz „Hartz IV und Leiharbeit. Es tut mir leid!“ An diesem Montag ist Klose einen Tag bei von Malottki in Neubrandenburg zu Gast.
Die Frau mit den vielen Fragen ist eine der Gäste im „Pop-up Café“ in der Neubrandenburger Oststadt: zwei Sessel, ein Tisch, ein paar Klappstühle, Kaffee in roten Pappbechern. Wer vorbeikommt und eine Frage hat, kann sich setzen. In den knapp zwei Stunden, in denen das Café aufgebaut ist, geht es aber nicht nur ums Bürgergeld, sondern auch um die Sauberkeit in einem der umliegenden Plattenbauten oder einen Spielplatz, der abgebaut werden soll. Neubrandenburg liegt mitten in Mecklenburg-Vorpommern, nach Rostock und Schwerin ist es die drittgrößte Stadt des Bundeslandes.
„Das Bürgergeld ist ein Bürgerrecht und kein Almosen“
Das Format des Pop-up Cafés hat Erik von Malottki schon im Wahlkampf eingesetzt. „Es ist eine gute Möglichkeit, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen“, sagt er. Und genau das ist auch das Anliegen von Annika Klose. Im Juli hat sie bereits eine „Südtour“ zum Bürgergeld gemacht, war etwa bei ihrer Abgeordnetenkollegin Carmen Wegge am Starnberger See oder im Saarland. In Neubrandenburg startet sie ihre „Nordtour“: In den kommenden Tagen will sie noch nach Stralsund und Lübeck und zum Abschluss nach Cottbus.
„Das Bürgergeld ist ein Bürgerrecht und kein Almosen“, betont Klose auch wenig später im „Haus der Kultur und Bildung“. Erik von Malottki hat dort zu einer Diskussion eingeladen. 20 Interessierte sitzen im Raum. Durch große Fensterscheiben können sie das Treiben auf dem Neubrandenburger Marktplatz beobachten. „Die Entscheidung für Hartz IV war in der damaligen Situation genau der richtige Schritt“, sagt Thomas Besse, der Vorsitzende der Geschäftsführung der Arbeitsagentur Neubrandenburg. Als er hier angefangen habe, habe es 40.000 Arbeitslose in der Region gegeben. „Heute sind es 10.000.“ Deshalb sei es richtig, sich jetzt darüber zu unterhalten, wie Menschen besser qualifiziert und weitergebildet werden können. „Das Bürgergeld hat da sehr gute Ansätze.“
Anpassung an die Herausforderungen der neuen Zeit
Auch im Publikum überwiegt die Vorfreude auf das neue Modell. Vor allem, dass Sanktionen erst nach einer Schonfrist von zwei Jahren angewendet werden können, kommt hier gut an. „Wir wollen das Fördern in den Vordergrund stellen“, betont auch Annika Klose und spricht von einem „Kulturwandel“. Gleichzeitig macht die Abgeordnete keinen Hehl daraus, dass sie die Sanktionen gerne ganz abschaffen würde. Als Vorsitzende der Berliner Jusos hat sie sich dafür lange stark gemacht. Jedoch seien auch schon vor dem derzeit geltenden Sanktionsmoratorium der Bundesregierung nur drei Prozent der Sozialleistungsempfänger*innen überhaupt noch mit Kürzungen belegt worden. „Ich möchte, dass wir unsere Politik an den 97 Prozent ausrichten“, sagt Klose.
Dass Sanktionsmöglichkeiten in Ausnahmefällen erhalten bleiben sollen, begrüßt Thomas Besse hingegen sehr. „Als ultima ratio muss es sie weiter geben“, ist der Arbeitsagentur-Geschäftsführer überzeugt. Viel wichtiger sei ohehin, dass der sogenannte Vermittlungsvorrang künftig wegfällt: Bisher stand das Ziel im Mittelpunkt, eine*n Arbeitsuchende*n möglichst schnell in eine Stelle zu vermitteln, egal, ob sie so richtig passt oder nicht. Dass Arbeitssuchende mit dem Bürgergeld Zeit bekommen sollen, sich weiterzubilden oder sogar ihren Schulabschluss nachzuholen, sei genau der richtige Ansatz. „Ein qualifizierter Berufsabschluss ist der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit“, so Besse. „Mit dem Bürgergeld ist Deutschland auf einem guten Weg, sein Sozialsystem an die Herausforderungen der neuen Zeit anzupassen.“
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.