Arbeit in der Pflege: Was kommt nach dem Applaus?
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Rund siebeneinhalb Jahre bleiben gelernte Krankenpfleger*innen in ihrem Job, bevor sie ihn wieder verlassen, sagt der Gesundheits- und Krankenpfleger Alexander Jorde. Es sei ein toller Beruf, doch seien die Arbeitsbedingungen so belastend, dass viele ihn einfach nicht länger durchhalten, betont er beim SPD-Zukunftsgespräch zum Thema Pflege mit Kanzlerkandidat Olaf Scholz. Die Bundestagsabgeordnete Claudia Moll nickt bestätigend. Aus ihrer 30-jährigen Berufserfahrung als Altenpflegerin weiß sie zu berichten, dass ihr längster Einsatz 19 Tage am Stück war. Eine enorme Belastung für die eigene Gesundheit, sagt Moll.
Tarifverträge müssen Regel werden
Heike Behrens hat 17 Jahre lang Rahmenverträge der Pflegeversicherung in Baden-Württemberg verhandelt. Damit hat die derzeitige Pflegebeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion einen „Einblick in das komplizierte Geflecht, wie es zur Preisbildung in der Pflege kommt“, erklärt sie. „Mit der Einführung der Pflegeversicherung war eben auch eine Marktöffnung verbunden. Damit haben wirtschaftliche Aspekte eine immer größere Rolle gespielt“, sagt Behrens. Sowohl die Kranken- und Pflegekassen als auch die überörtlichen Sozialhilfeträger seien „harte Verhandler“. Sie hätten in den vergangenen 25 Jahren dazu beigetragen, die „Preise in der Pflege niedrigzuhalten und teilweise auch das Zahlen von Tarifgehältern zu verhindern“, fügt sie hinzu.
Als sie 2013 in den Bundestag kam, habe sie sich als wichtigsten Punkt vorgenommen, „dass wir das Bezahlen von Tarifverträgen zur Regel machen müssen“. Die Beschäftigten brauchten mehr Zeit in der Pflege, um sich den Menschen zuwenden zu können. „An dieser Stelle ist nach wie vor viel zu tun“, sagt sie.
Doch was muss sich ändern, damit Arbeitsbedingungen besser werden, fragt SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz in seiner Rolle als Moderator dieser Online-Konferenz. Er formuliert den Anspruch, gute Regelungen für die Beschäftigten zustande zu bringen, denn er habe den Eindruck, dass „die ganze Klatscherei bei vielen Beschäftigten zu zwiespältigen Gefühlen geführt habe, da die Konsequenzen für den Arbeitsalltag ausgeblieben sind“.
35-Stunden-Woche für die Pflege
Alexander Jorde hat eine klare Antwort. Er fordert eine gesetzliche Ausweitung der gesetzlichen Ruhezeiten für der Arbeit in den Krankenhäusern. Denn die für andere Arbeiternehmer*innen vorgesehenen elf Stunden Pause zwischen Arbeitsende und Arbeitsbeginn gelten hier nicht. Ein Spätdienst ende, wenn es gut laufe, gegen 21 Uhr. Der Frühdienst beginne um sechs, berichtet er aus seinem Alltag. Für Eltern eine enorme Belastung, wenn in der Zwischenzeit noch Berufsweg, Kinderbetreuung und Haushalt absolviert werden müssen.
Darüber hinaus plädiert er für die 35-Stunden-Woche. Das wäre für viele ein enormer Gewinn, so Jorde. Dem möglichen Einwand, „dann steht euch ja noch weniger Personal zur Verfügung“, weist er zurück. In seinem Team arbeiteten von rund 50 Pflegekräften weniger als die Hälfte in Vollzeit, erklärt er. Das bedeute aber auch weniger Lohn. „Mit einer 35-Stunden-Woche wäre für die meisten eine Reallohnerhöhung verbunden.“
Als dritten, sehr essentielles Punkt nennt Jorde die Pflegepersonalbemessung. Personaluntergrenzen in den Krankenhäusern sollten ursprünglich bereits jetzt in der Groko umgesetzt werden. Das stehe noch auf der To-do-Liste von Jens Spahn und sollte „zwischen dem einen oder anderen Maskendeal“ nicht in Vergessenheit geraten, mahnt Jorde mit Blick auf den Gesundheitsminister der CDU. Sollte dies in dieser Legislatur nicht mehr klappen, gehöre die Frage, wie viele Patientinnen von einer Pflegefachkraft maximal betreut werden dürfen, ganz oben auf die Agenda, so Jorde.
Dem stimmt Claudia Moll zu. In ihrem bereits im vergangenen Jahr vorgelegten Papier „Gute Pflege – Machen“ fordert sie einen besseren Betreuungsschlüssel bei den von Alltagsbegleiter*innen, die Bewohner*innen beispielsweise in den Gottesdienst begleiten oder mit Bewohnern gemeinsam gärtnern. Zudem müsse der Personalschlüssel nach Pflegeaufwand und unabhängig vom Pflegegrad bemessen werden, so Moll.
Pflegeuntergrenze gesetzlich regeln
Dass sich der Personalschlüssel für die einzelnen Leistungsbereiche am tatsächlichen Bedarf orientieren müsse, steht auch für Heike Behrens außer Frage. Für den Krankenhausbereich habe man bereits einen wichtigen Paradigmenwechsel eingeleitet, indem das „Pflegbudget aus den Fallpauschalen herausgenommen wird, damit nicht weiterhin zu Lasten des Pflegepersonals gespart werde“, betont sie. Untergrenzen hält sie für enorm wichtig, damit das Personal nicht überfordert wird und die Patientensicherheit gegeben ist. Mit der Pflegepersonalregelung 2.0 hätten verdi, der Bundesverband der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) und der Deutsche Pflegerat einen guten Vorschlag gemacht. Behrens: „Das könnte man jetzt auf den Weg bringen. Das wäre ein deutlicher Fortschritt für den Krankenhausbereich.“
Würden veränderte Rahmenbedingungen tatsächlich dazu führen würden, Pflegeberufe attraktiver zu machen, will Scholz von Alexander Jorde wissen. Der ist überzeugt, dass Verbesserungen wie eine geringere Wochenarbeitszeit, eine klare Personalbemessungsgrenze und ein besseres Gehalt langfristig dazu führen würden, dass viele Fachkräfte in ihrem Job bleiben. „Dann würden sie wieder positiv über den Beruf berichten und einige sogar zurückkehren.“ Gleichzeitig fordert Jorde viel mehr Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen bis hin zu hochschulischen Ausbildungen. „Auch das ist Teil von Attraktivität in diesem Beruf.“
SPD für Bürgerversicherung
Wolle man die „achselzuckende Nonchalance“, mit der man über diese schwierige Situation der Beschäftigten hinwegsieht, beenden, „hat das einen Preis“, erklärt Scholz. „Wir können nicht Beifall klatschen und sagen, wir brauchen bessere Arbeitsbedingungen und höhere Gehälter, und dann nicht auf irgendeine Weise – möglichst sozial gerecht – auch dazu beitragen“, sagt er. „Wenn wir mehr Personal wollen, wird das auch etwas kosten. Diese Wahrheit muss ausgesprochen werden.“
Man kann das solidarisch ganz gut finanzieren, weiß Behrens. Man müsse allerdings ein paar Dinge anders strukturieren. Als Beispiel nennt sie die medizinische Behandlungspflege. Diese Leistung, die eigentlich eine Krankenversicherungsleistung ist, werde heute von den Pflegebedürftigen selbst bezahlt, obwohl sie krankenversichert sind. „Würde diese Leistung von der Krankenversichertengemeinschaft gezahlt, hätte man in der Pflegeversicherung zwei Milliarden Euro mehr zur Verfügung.“
Außerdem lägen in der privaten Pflegeversicherung fast 40 Milliarden Euro auf der hohen Kante, weil dort höhere Beiträge eingenommen würden, doch die Leistungen viel niedriger seien. Behrens: „Würden wir diese beiden Versicherungszweige zusammenfügen, hätten wir auf Anhieb jährlich ebenfalls zwei Milliarden Euro mehr zur Verfügung.“ Und selbst wenn sich der Koalitionspartner von CDU/CSU hier weigere, müsse man zumindest einen Risikoausgleich zwischen privater und gesetzlicher Versicherung einfordern. Als drittes Instrument zur besseren Finanzierung in der Pflege nennt Behrens einen Steuerzuschuss, um den Eigenanteil in der Pflege zu deckeln oder dass eine oder andere Zukunftsprojekt anzuschieben.
Pflege solidarisch finanzieren
Alexander Jorde hofft, dass das Thema Pflege eines der wichtigsten Kernthemen im Bundestagswahlkampf wird. Als weitere Möglichkeit einer gerechteren Finanzierung schlägt er vor, die Beitragsbemessungsgrenze für hohe Einkommen aufzuheben oder sie deutlich anzuheben, um diejenigen, die besonders hohe Gehälter haben, ihren Beitrag leisten. Zudem sollten Gewinne, die beispielsweise am Aktienmarkt erworben werden, ebenfalls zur Finanzierung des Gesundheits- und Pflegesystems herangezogen werden. „Das muss sich auch ändern“, so Jorde. Da sollte man nicht nur an die Pflegebedürftigen und Arbeitnehmer*innen denken.
Das könnte fast das Schlusswort sein, sagt Scholz. Er jedenfalls stimme zu, dass Solidarität die einzige Möglichkeit sei, die Aufgaben der Pflege- und die der Krankenversicherung ordentlich zu finanzieren. „Es muss ordentlich bezahlt werden, ich will da ausdrücklich für werben“, sagt Scholz. „Wir müssen uns auch für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Flexibilität für die Beschäftigten durchringen und Ruhezeiten durchsetzen“, fügt er hinzu.
hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.