"Man kann diese eigenständigen und eigensinnigen Niederländer sowieso nicht daran hindern zu sagen, was sie für richtig halten", erinnert sich Egon Bahr an die intensiven Auseinandersetzungen
zwischen seiner Partei und ihrer niederländischen Schwesterorganisation Partij van de Arbeid (PvdA). Als SPD-Bundesgeschäftsführer erlebte er die gegenseitigen Beziehungen aus nächster Nähe mit.
Diese schwankten über die Jahrzehnte zwischen engen partnerschaftlichen Kontakten und politischen Streitereien, die zu Redeverboten und heftigen Beschuldigungen führten.
Marc Drögemöller zeigt in seinem Buch "Zwei Schwestern in Europa. Deutsche und niederländische Sozialdemokratie 1945-1990", dass sich die Funktionäre der niederländischen Sozialdemokratie
nicht vor Kritik an ihren deutschen Partnern scheuten. Der Autor untersucht das abwechslungsreiche Verhältnis zweier sozialdemokratischer Parteien und stellt die Außen-, Sicherheits- und
Europapolitik in den Vordergrund.
Zunächst begann die Beziehung der Schwesterparteien harmonisch. Bei ihrer Gründung 1884 übernahm die niederländische Sozialdemokratie das in Erfurt verabschiedete Grundsatzprogramm der SPD.
Die Leitlinien ihres großen Vorbilds wirkten auf die Niederländer so anziehend, dass sie diese ohne inhaltliche Änderungen ins Niederländische übersetzten. Neben der inhaltlichen Unterstützung
gewährte die SPD ihrer kleinen Schwester auch eine finanzielle Starthilfe. 1500 Mark sandte der Parteivorstand in Deutschland an die Parteizentrale in Amsterdam.
Streit um die Westintegration
Doch die Eintracht war kein Naturzustand. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg stand die PvdA der ehemaligen Besatzungsmacht Deutschland kritisch gegenüber. In außenpolitischen Fragen kam
es zu großen Auseinandersetzungen. So waren die Mitglieder der PvdA zutiefst entrüstet, als sich der der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher gegen den Beitritt zum atlantischen Bündnis aussprach und
stattdessen auf die deutsche Wiedervereinigung setzte. Eine Westbindung hääte diesem Ziel entgegengestanden, so die Meinung der SPD-Spitze. Das niederländische Sicherheitsbedürfnis verlangte
jedoch danach, die junge Bundesrepublik in die westlichen Bündnisse einzubinden. Trotz hartnäckiger Bemühungen ließ sich die SPD zunächst nicht umstimmen.
Im Gegenteil: Je stärker die Überzeugungsarbeit der Niederländer, desto mehr zog sich die SPD zurück. Der Konflikt gipfelte schließlich in einem Redeverbot für Alfred Mozer, dem in München geborenen internationalen Parteisekretär der PvdA, auf sozialdemokratischen Veranstaltungen. Zudem durften Vertreter der SPD, nicht mehr an Parteitagen der niederländischen Sozialdemokraten teilnehmen. Die Beziehungen waren auf dem Tiefpunkt angelangt.
Erst als die SPD Ende der fünfziger Jahre die Westintegration bejahte und mit dem Godesberger Programm inhaltliche Reformen einleitete, entspannte sich die Lage. Aus dem Streit erwuchs mit der Zeit wieder eine intensive Partnerschaft.
Marc Drögemöller arbeitet in seinem Buch heraus, wie sehr die handelnden Politiker das Verhältnis zueinander prägten. Mit Willy Brandt sympathisierten die niederländischen Genossen. In ihren Augen war der Exilant ein "guter Deutscher" und wegen seiner Ostpolitik auch ein "guter Sozialdemokrat". Sein Nachfolger Helmut Schmidt und sein "Modell Deutschland" empfand man hingegen als kühl und berechnend. Dass er später zu den Initiatoren des NATO-Doppelbeschlusses gehörte, verstärkte den negativen Gesamteindruck in einer pazifistischen Partei wie der PvdA.
Aus den Kontakten der Schwesterparteien erwuchsen aber nicht nur politische Interessengemeinschaften. Der intensive Dialog zwischen Koos Vorrink, dem langjährigen Vorsitzenden der PvdA und
Erich Ollenhauer oder die Freundschaft zwischen Herbert Wehner und Alfred Mozer stehen beispielhaft für eine konstant enge Zusammenarbeit. Diese persönliche Note war ein wichtiger Bestandteil der
Beziehungen beider Parteien, wie in dem Buch deutlich wird. Drögemöller lässt den Leser an einem Schwesterverhältnis teilhaben, das zeigt, wie viel die europäischen Sozialdemokraten voneinander
lernen können. Gerade deshalb ist der Parteienvergleich aktueller denn je.
Marc Drögemöller: Zwei Schwestern in Europa. Deutsche und niederländische Sozialdemokratie 1945-1990. ISBN 978-3-86602-139-6. vorwärts buch € 29,95. Mit einem Vorwort von Kurt Beck und
Wouter Bos