Wo Sigmar Gabriel Politiker wurde
Foto:Dirk Bleicker / www.dirkbleicker.de
So also sieht es aus, wenn Sigmar Gabriel ein Heimspiel hat. Am Mittwoch Abend dieser Woche steht der SPD-Vorsitzende im Kaisersaal der Kaiserpfalz, einem mittelalterlichen Bau etwas oberhalb seiner Heimatstadt Goslar, und spricht über „Rotbart Barbarossa“. Am Vormittag hat er als Vizekanzler eine Sitzung des Bundeskabinetts in Berlin geleitet. Danach ist er nach Hause gefahren und hat seine vierjährige Tochter Marie aus der Kita abgeholt. Jetzt erklärt er eine Gruppe Hauptstadtjournalisten anhand historischer Fresken ein Stück deutsche Geschichte.
Goslar ist Gabriels Heimat und Sprungbrett in die Politik
Hier im Kaisersaal sind sie alle versammelt: Wilhelm I., der erste Kaiser eines geeinten Deutschen Reichs, Heinrich IV., der 1077 den Gang nach Canossa antreten musste, um vom päpstlichen Bann erlöst zu werden, und eben Friedrich I., genannt Barbarossa, der der Sage nach unter dem Kyffhäuser-Gebirge auf seiner Rückkehr wartet. Sigmar Gabriel ist hier ganz in seinem Element. Er erzählt Geschichte und Geschichten, die Journalisten blicken staunend die Gemälde an. Dann bittet einer der Fotografen den SPD-Chef, sich für ein Bild vor die Gemälde zu stellen. „Das mache ich nicht“, sagt Gabriel und lacht. „Sonst denkt noch jemand, ich gehöre dazu.“
Sigmar Gabriel wurde in Goslar geboren. Er ist hier aufgewachsen und zur Schule gegangen. Hier trat er in die SPD ein, war in der Kommunalpolitik aktiv, für Goslar zog er 1990 in den niedersächsischen Landtag ein. „Die dachten damals, sie stellen hier lieber einen Jungen auf, der auch ein paar Mal kandidieren kann, ehe er es in den Landtag schafft“, erzählt Gabriel. Dass er es im bis dahin schwarzen Wahlkreis im ersten Anlauf schaffte, war eine kleine Sensation. Bis zu seinem Wechsel in die Bundespolitik 2005 konnte Gabriel diesen Erfolg noch dreimal wiederholen.
Wo „Provinz“ kein Schimpfwort ist
„Goslar ist eine stolze Stadt mit engagierten Bürgern“, sagt Gabriel. Ein Umzug nach Berlin käme für ihn und seine Familie nicht infrage, auch wenn das Pendeln Stress bedeutet. „Oft bin ich nur 20 Stunden in der Woche hier.“ Trotzdem nimmt er den Weg auch nachts in Kauf, „damit ich zumindest mit meiner Frau und meiner Tochter frühstücken kann“. Goslar ist für Gabriel auch ein Ausgleich zum Berliner Politikbetrieb. „Politik ist nicht nur das, was rund ums Reichtstagsgebäude passiert“, weiß er. „Provinz“ sei für ihn kein Schimpfwort.
Einen Tag später steht der SPD-Chef in einer großen Halle. Er trägt einen weißen Helm und eine Schutzbrille. Ein paar Meter neben ihm fließt flüssiges Eisen bei 1500 Grad aus einem Hochofen. „Das hier ist ein starker Teil deutscher Industrie“, lobt Gabriel. Die „Salzgitter AG“ produziert Röhren, Bleche und Autoteile aus Stahl. Weltweit beschäftigt der Konzern 25.000 Mitarbeiter, hier in Salzgitter, etwa 30 Kilometer von Goslar entfernt, sind es gut 10.000. Viele weitere Unternehmern in der Region profitieren als Zuliferer und Dienstleister.
Politik „nicht nur auf Umfragewerte fixiert“
Doch das Unternehmern steckt in der Krise. Die Hauptgründe sind billiger Stahl aus China und Russland und „eine teilweise irrationale Energie- und Umweltpolitik“, wie Konzernchef Heinz Jörg Furhmann meint. „Dazu tragen Sie nicht bei“, ergänzt er an Sigmar Gabriel gewandt. Die Politik des Wirtschatsministers sei „ein Stück gelebter Führung“ und „nicht nur auf Umfragewerte fixiert“.
Gabriel kennt sie Salzgitter AG schon lange. Für die IG Metall saß er mal im Aufsichtsrat, das Unternehmen liegt mitten in seinem Bundestagswahlkreis. „Wir kämpfen für diese Industrie“, verspricht er. Sie habe schließlich nicht nur Tradition, sondern beinhalte „geschlossene Wertschöpfungsketten“.
„You have to learn German“
Weiter geht es nach Peine. Inzwischen hat sich Hubertus Heil der Gruppe angeschlossen. Er ist stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und vertritt den Wahlkreis Gifhorn-Peine im Bundestag. Gemeinsam wollen Gabriel und Heil mit Schülern der Berufsbildenden Schule(BBS) über „aktuelle politische Fragen“ diskutieren. Doch bevor sie die Aula betreten, entdeckt Sigmar Gabriel eine Gruppe junger Männer mit schwarzer Hautfarbe, die an einer Mauer lehnen.
„Hi“, sagt er und tritt auf sie zu. „Where are you from?“ Die Männer gucken erstaunt als sich plötzlich eine ganze Gruppe um sie schart, darunter auch einige Fernsehkameras. Sie erzählen, dass sie aus dem Sudan kommen, seit einigen Monaten in Peine leben und an der BBS Deusch lernen. Die Schule werde von Studenten aus Braunschweig unterstützt, die den Flüchtlingen Deutsch beibringen, erklärt die Schulleiterin. Es sei „eine Win-Win-Situation für alle“. „You have to learn German“, betont auch Sigmar Gabriel, der vor seinem Wechsel in die Politik selbst Spätaussiedlern Deutsch beigebracht hat. Zum Abschied wünscht er den jungen Männern alles Gute. „Today ist my best day“, sagt einer von ihnen zum Abschied.
Schultoiletten, Flüchtlinge und Terrorismus
In der Aula sitzen Gabriel und Heil etwa 200 Schülern gegenüber. Die meisten sind 16 oder 17 Jahre alt. Es ist iher erster Schultag nach den Sommerferien. Einige haben Fragen vorbereitet. Es geht um Bildung, den Zustand von Schultoiletten, Flüchtlinge und Terrorismus. Sigmar Gabriel antwortet routiniert, doch plötzlich hält er inne. „Sagen Sie mal etwas dazu“, fordert er einen Schüler auf. „Ich sehe doch, dass Ihnen nicht gefällt, was ich erzähle.“ „Das wollen Sie nicht hören“, antwortet der junge Mann. „Glauben Sie mir“, grinst Gabriel, „ich bin viel Schlimmes gewohnt“.
Dann legt der Schüler los. „Warum wird der Islam von den Medien in den Dreck gezogen?“, will er wissen. Nach jedem Anschlag müssten Muslime sich rechtfertigen. Sigmar Gabriel schaut ernst. Das Thema bewegt auch ihn. Dann antwortet er. „Ich kann Ihr Gefühl verstehen, bin mir aber sicher, dass es nicht stimmt.“ Nicht die Medien seien an der verzerrten Wahrnehmung schuld. „Wir müssen eine Bereitschaft dafür entwickeln, hinzugucken, was wirlich los ist.“ Dann schlägt er dem Schüler einen Deal vor. „Sie machen mit Ihrer Klasse eine Auswertung, wie der Islam in den Medien dargestellt wird. Und danach komme ich wieder.“
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.