Wir haben drei junge Menschen gefragt, warum ihnen das vereinte Europa wichtig ist – und was sie von der Europäischen Union für die Zukunft erwarten. Sie sagen: Frieden bedeutet mehr als nur die Abwesenheit von Krieg.
Welcher Gedanke geht Ihnen als erstes durch den Kopf, wenn Sie das Wort „Europa“ hören?
FEDERICO QUADRELLI: Ich habe in Mailand Soziologie studiert. Danach hatte ich keine Chance, in Italien eine Arbeit zu finden, selbst in einer reichen Stadt wie Mailand. Deshalb bin ich nach Berlin gezogen. Hier habe ich eine neue Sprache kennengelernt, eine andere Kultur und neue Freunde. Italien ist meine alte Heimat, Deutschland meine neue. Europa ist für mich das, was beides verbindet.
TIM KAUFMANN: Ich stamme aus dem Saarland und bin an der deutsch-französischen Grenze aufgewachsen. Für mich ist es ganz normal, nach Brüssel oder Paris zu fahren, ohne an eine sichtbare Grenze zu stoßen. Meine Oma hat die Zeit noch miterlebt, als Deutschland und Frankreich als „Erbfeinde“ galten. Deshalb ist die Europäische Union in meinen Augen vor allem ein Friedensprojekt. Sie ist das Beste, was uns passieren konnte.
MERLE STÖVER: Im vergangenen Jahr habe ich einen Freiwilligendienst in einer Grundschule in Budapest absolviert und habe mich dadurch mit anderen Freiwilligen und Studierenden aus verschiedenen Ländern angefreundet. Heute kann man frei entscheiden, wo in Europa man studieren oder einen Freiwilligendienst machen will. Diese Erfahrung hat mich geprägt. Und die Zeit in Budapest hat auch meinen Blick auf Europa verändert.
Inwiefern?
MS: Wenn wir in Deutschland über Europa sprechen, denken wir an die Länder, in denen wir Urlaub verbringen, also Frankreich, Italien, Spanien, Portugal oder Griechenland. Diese Länder bestimmen auch unsere Diskussionen über die sogenannte Euro-Krise. Bulgarien war aber auch schwer von der Krise betroffen. Und in Ungarn habe ich erlebt, wie die Eltern abends Deutsch-Kurse belegen, damit sie mit ihren Kindern nach Deutschland kommen können. In der Heimat haben die Kinder nur wenige Perspektiven. Die osteuropäischen EU-Länder kommen im europäischen Diskurs zu kurz. Aber auch dort leben Menschen, denen wir soziale Rechte und Zukunftschancen ermöglichen müssen.
TK: Das stimmt. Die Europäische Union ist eben nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch eine solidarische Gemeinschaft. Zumindest sollte das unser Ziel sein.
FQ: Leider spielt dieser Aspekt noch eine zu kleine Rolle. Sogar in Italien leben Millionen Menschen in Armut. Ein anderes Beispiel: Ich war neulich am Berliner Oranienplatz. Dort lebten Flüchtlinge, die über Lampedusa nach Deutschland gekommen sind, in Zelten. Sie hatten kein Licht, keine Heizung, kein Wasser. Aus Italien wurden sie weitergeschickt, und hier in Deutschland werden sie auch nicht menschenwürdig behandelt.
MS: Dass tausende Flüchtlinge in Lampedusa ankommen, ist kein italienisches Problem, sondern ein europäisches. Deshalb müssen wir es auch auf europäischer Ebene lösen.
TK: Europa ist als Friedensprojekt entstanden. Auf diese Grundidee müssen wir uns zurückbesinnen. Frieden bedeutet nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern auch sozialer Frieden. Hier muss Europa die Verantwortung gemeinsam tragen und die Probleme auch global betrachten. Wie kann es sein, dass Menschen in großer Not auf unseren reichen Kontinent kommen und als erstes Marineschiffe und Stacheldraht sehen? Sie menschenwürdig hier aufzunehmen stellt Europa natürlich vor große Herausforderungen. Aber wir sind dazu verpflichtet, wenn wir die Menschenrechte wahren wollen.
Sie nennen die Europäische Union ein Friedensprojekt. Wird Frieden in Ihrer Generation nicht bereits als etwas Selbstverständliches betrachtet?
TK: Was gerade vor der Haustür der Europäischen Union stattfindet, etwa in Syrien oder der Ukraine, erinnert uns daran, dass Frieden nicht selbstverständlich ist. Aber die EU hat sich als stabile Gemeinschaft bewährt, in der man derzeit keine Angst haben muss, dass Konflikte eskalieren.
FQ: Ich komme ursprünglich aus der Toskana. Im Dorf Sant´Anna die Stazzema haben deutsche SS-Truppen noch kurz vor dem Kriegsende ein Massaker verübt. Aber die junge Generation in Italien weiß gar nicht mehr, was Krieg bedeutet.
MS: Die Europäische Union muss sich auch außerhalb Europas noch mehr für Frieden einsetzen. Zum Beispiel mit einer aktiveren Entwicklungshilfepolitik.
TK: Dazu braucht die EU eine einheitliche Stimme in der Außenpolitik. Zwar haben wir mit Catherine Ashton bereits eine EU-Außenbeauftragte, aber sie hat es schwer, weil sie immer Rücksicht auf die verschiedenen nationalen Interessen nehmen muss.
MS: Die europäische Sozialdemokratie fordert eine europäische Armee. Ich denke, das ist ein richtiger Schritt, um zu zeigen, dass die EU-Staaten als Einheit handeln und für jeden Einsatz einen Konsens benötigen.
Dass die EU den Frieden erhält, ist ein Grund, für ein vereintes Europa zu sein. Gibt es noch weitere?
FQ: Auch aus wirtschaftlichen Gründen ist die Europäische Einigung wichtig. Als einzelne Staaten können wir gegen die großen Wirtschaftsmächte der Welt nicht bestehen. An der europäischen Einigung haben wir 60 Jahre lang Stück für Stück gebaut. In Zukunft müssen wir sie schrittweise noch weiter vertiefen.
TK: Nur gemeinsam können wir auch soziale Rechte und Menschenrechte durchsetzen. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass die Europäische Union ein Vorbild für andere Länder ist. Zum Beispiel tragen unsere Beziehungen zur Türkei trotz aller Rückschläge dazu bei, dass wir neben wirtschaftlichen Produkten auch kulturelle und politische Grundrechte in das Land exportieren.
Am 25. Mai wird ein neues Europaparlament gewählt. Was erwarten Sie von dieser Wahl?
FQ: Zunächst einmal müssen wir verhindern, dass anti-europäische Parteien zu viel Macht gewinnen. Wenn ich mir die Umfragewerte in Frankreich, England oder Italien ansehe, macht mir das Sorgen. Auch in Deutschland könnten die AfD und die NPD zusammen auf zehn Prozent kommen. Deswegen dränge ich alle meine Freunde dazu, unbedingt wählen zu gehen.
TK: Wir müssen die Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen. In Spanien ist jeder zweite Jugendliche arbeitslos. Das können wir nicht akzeptieren, denn es gefährdet die Zukunft Europas.
MS: Wenn ich mein Studium beendet habe, werde ich wahrscheinlich sofort einen Job bekommen. In Spanien oder Griechenland ist das nicht möglich. Das ist ungerecht. Bei dieser Wahl geht es darum, gute soziale Standards für ganz Europa zu schaffen. Wir brauchen auch einen europäischen Mindestlohn.
Welches Europa wünschen Sie sich in 50 Jahren?
FQ: Ich hoffe, dass wir dann in den Vereinigten Staaten von Europa leben, also in einem föderalen europäischen Bundesstaat.
MS: Und in diesem Bundesstaat Europa geht die Arbeiterin aus Polen auch für den Arbeiter aus Portugal auf die Straße. Solidarität ist dann keine Frage der Nationalität mehr.
TK: Alle Menschen haben die gleichen Rechte und Chancen, unabhängig von ihrem Pass.
Federico Quadrelli ist 27 Jahre alt und in der Toskana aufgewachsen. Weil er nach dem Studium in Mailand keinen Job fand, zog er nach Berlin. Er ist der Präsident der Fraktion des italienischen „Partito Democratico“ in Berlin.
Tim Kaufmann stammt aus dem Saarland und studiert derzeit Jura in Berlin. Der 23-Jährige engagiert sich in der „Bundeskommission Internationales“ der Jusos.
Merle Stöver ist ebenfalls bei den Jusos aktiv. In Berlin studiert die 19-Jährige Soziale Arbeit. Außerdem betreibt sie einen Internet-Blog, wo sie über Feminismus und Machtstrukturen schreibt.
arbeitet als Redakteur für die DEMO – die sozialdemokratische Fachzeitschrift für Kommunalpolitik.