Wir Sozialdemokraten müssen die Einwanderung gestalten
Wir schreiben das Jahr 2025. Zehn Jahre sind ins Land gegangen, seitdem die SPD das Impulspapier „Starke Ideen für Deutschland 2025“ veröffentlicht hat mit dem Ziel „jetzt ein gemeinsames Selbstverständnis für die Einwanderungsgesellschaft Deutschland zu schaffen“.
Deutschland und seine Gesellschaft haben sich gewandelt. Es ist sehr viel bunter, städtischer aber auch älter geworden. Mittlerweile hat fast jede zweite Familie in Deutschland ausländische Wurzeln. Rund die Hälfte der Erstwählerinnen und Erstwähler in Westdeutschland hat einen Migrationshintergrund und rund 25 Prozent der Wahlbevölkerung.
2025 ist die Alterung der SPD weiter fortgeschritten. Über die gesamte Republik verteilt treten nunmehr 400 000 Mitglieder für sozialdemokratische Politik ein. Die Kampagnenfähigkeit und die Dynamik der innerparteilichen Willensbildung haben nachgelassen.
Die Forderungen der Generation „DeutschPlus“
Besonders viele jungen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland gehören dem so genannten bildungshungrigen Aufstiegsmilieu an. Schon 2015 hatte rund ein Drittel von ihnen Abitur und damit mehr als ihre vergleichbare Altersgruppe ohne Migrationshintergrund.
Eine neue Generation „DeutschPlus“ ist herangewachsen, die sich in Deutschland zuhause fühlt und ihre eigenen Wurzeln wertschätzt. Ihre Vertreter fordern für sich Chancengleichheit und eine Einwanderungsgesellschaft, die das in ihrem Selbstverständnis und in ihren Institutionen ermöglicht und abbildet.
Die SPD im Jahr 2015 kam diesen Wünschen noch eher zögerlich nach und drohte, den Anschluss an diese gesellschaftliche Entwicklung zu verpassen – und damit auch die Chance, sich weiterzuentwickeln und die sozialdemokratischen Werte von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in einer neuen Generation fest zu verankern.
Integration ist bisher kein zentrales politisches Thema
Es wäre nicht das erste Mal, dass die SPD wichtige gesellschaftliche Modernisierungsströmungen zu spät ernst genommen hätte. Oder um es mit den Worten des gerade verstorbenen Helmut Schmidt zu sagen: Die Sozialdemokratie könnte möglicherweise noch nicht in ihrer Breite verstanden haben, „wie sehr sich die Gesellschaft verändert hat. Es gibt keine politische Partei in Deutschland, die die Integration als zentrales Thema begriffen hat – auch nicht die SPD“.
Dies ist nur ein Ausblick in eine mögliche Zukunft. Vieles von dem beschriebenen muss nicht so kommen, kann es aber. Sicher ist: Die Einwanderungsgesellschaft ist anstrengend für alle und sie gestaltet sich nicht von selbst. Dasselbe gilt für den Anspruch der SPD, die führende Vielfalts- und Integrationspartei in Deutschland zu werden, eine deutliche Mehrheit in unserem Land dabei mitzunehmen und damit den rechten Rattenfänger eine klare zukunftsgerichtete Position entgegenzusetzen.
Eine sozialdemokratische Agenda für Vielfalt und Teilhabe
Fünf Punkte sollten deshalb Kernbestandteil einer sozialdemokratischen Agenda für Vielfalt und gleichberechtigte Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft sein:
1. Ein neuer verfassungsrechtlicher Kompass für die Einwanderungsgesellschaft, der die staatlichen Institutionen langfristig verpflichtet; ein neuer Artikel 20b im Grundgesetz, der lauten könnte: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein vielfältiges Einwanderungsland. Sie fördert daher die gleichberechtigte Teilhabe und Integration.“ Damit würde das Grundgesetz ein Up-Date bekommen ähnlich der Aufnahme des Umweltschutzes ins Grundgesetz vor einigen Jahren.
2. Eine breite gesellschaftliche Debatte über ein neues Leitbild der bundesrepublikanischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert so wie es führende Soziologen und Migrationswissenschaftler seit längerem fordern. Auch eine so stark ausdifferenzierte Gesellschaft wie die unsrige benötigt ein gemeinsames Selbstverständnis. Darum müssen wir dem konservativen Begriff der Leitkultur ein zukunftsfähiges Leitbild entgegensetzen. Bundespräsident Gauck nennt dies ein „neues deutschen Wir“ oder die „Einheit der Verschiedenen“ in Anlehnung an das kanadische Vorbild der „unity in diversity“.
3. Eine neue Gemeinschaftsaufgabe „gleichberechtigte Teilhabe und Integration“. Der Bund darf die Länder und Kommunen bei dieser gewaltigen Aufgabe nicht allein lassen. Mit einer neuen Gemeinschaftsaufgabe teilen sich Bund und Länder die Kosten der Integration der vielen Flüchtlinge bei gleichzeitiger Unterstützung der sozial Schwachen in unserem Land.
Migration und Integration sind eng mit der sozialen Frage verknüpft. Das müssen wir stärker herausarbeiten und dabei auch unsere Vorstellungen von einer „guten Gesellschaft“ deutlicher in die politische Auseinandersetzung tragen. Rechtspopulisten dürfen keinen Vorwand bekommen, Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen. Insgesamt wird Deutschland laut Schätzungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bei allen Schwierigkeiten in den kommenden fünf bis zehn Jahren davon wirtschaftlich deutlich profitieren.
4. Es ist notwendig, die Einwanderung nach Deutschland im Sinne nationaler Interessen mit einem Einwanderungsgesetz stärker zu steuern und dafür auch die integrationspolitischen Kompetenzen auf Bundesebene zu bündeln. Viele sozialdemokratisch regierte Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Hamburg oder auch Baden-Württemberg praktizieren dies heute schon erfolgreich.
Damit einhergehend wäre ein bundesweites Partizipations- und Integrationsgesetz zur interkulturellen Öffnung sinnvoll. Unsere öffentlichen Strukturen sind noch nicht ausreichend auf die Einwanderungsgesellschaft vorbereitet. Gleichstellungspolitische Ansätze können damit auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden.
5. Der innerparteiliche Weg der interkulturellen Öffnung der SPD sollte weiter forciert werden. Unser Ziel sollte es sein, die attraktivste Partei für all diejenigen im Land zu werden, die Vielfalt als einen positiven Wert schätzen, sozialen Aufstieg wollen und sich gegen ein rückwärtsgewandtes Deutschland stellen.
Mit seinem Beschluss „Für Gleichberechtigung und eine Kultur der Anerkennung“ hat der SPD-Parteivorstand 2011 hierfür die Grundlagen gelegt. Er fordert einen Mainstreaming-Ansatz, der sicherstellt, dass künftig bei politischen Entscheidungen berücksichtigt wird, inwieweit sie dem Ziel einer verbesserten Teilhabe und Anerkennung von Migrantinnen und Migranten in Deutschland und in der SPD dienen. Es geht dabei auch um Ziele und Regeln, die eine verbesserte Repräsentation von Migranten in den politischen Führungsgremien der SPD und in den Parlamenten sicherstellen inklusive einer Quote von 15 Prozent in allen Führungsgremien der Bundespartei.
Es geht um die Zukunft der SPD als Volkspartei
Fast fünf Jahre nach diesen Beschlüssen gilt es Bilanz zu ziehen. Dafür sollte der Parteivorstand eine hochrangige Expertenkommission einsetzen. Die Ergebnisse der Kommission würden auf einem bundesweiten Parteikongress zur interkulturellen Öffnung diskutiert werden, um den Parteigliederungen wirkungsvolle Empfehlungen an die Hand zu geben.
Der neue kanadische Premier Justin Trudeau hat die weltweit positiven Reaktionen auf seine vielfältige Kabinettsmannschaft, in der alle Gesellschaftsgruppen gleichmäßig vertreten sind, mit den einfachen Worten kommentiert: „Because it`s 2015.“ Das ist Ausdruck einer klaren Haltung, die er in konkrete Politik übersetzt. Wenn wir in zehn Jahren noch eine starke Volkspartei sein wollen, dann sollten wir jetzt anfangen, energisch die Einwanderungsgesellschaft mitzugestalten. Mit einer Haltung, die mehr Vielfalt im Fühlen, Denken und Handeln zulässt, dem Land und seinen Menschen zuliebe und unseren sozialdemokratischen Werten verpflichtet.