Parteileben

"Wir haben den Draht verloren"

von Jörg Hafkemeyer · 4. November 2009
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Sie ist eine temperamentvolle Frau. Ausdrucksstark. Nachdrücklich. Sie lässt ihren Gesprächspartner nicht aus den Augen. Nur, Geduld, also Geduld sei ihr von zu Hause nicht mitgegeben worden, sagt Andrea Nahles, zieht die Augenbrauen hoch. "Bei meinem Temperament. Wenn ich etwas gelernt habe in den 20 Jahren in denen ich jetzt in der SPD bin, dann ist es Geduld. Einfühlungsvermögen hatte ich schon immer. Geduld hat mir
gefehlt." Das Café im Literaturhaus in der Charlottenburger Fasanenstraße ist an diesem herbstlichen Abend gut besucht. Es ist ein beliebter und traditionsreicher Treffpunkt im westlichen Berlin. Er gefällt der studierten Germanistin, die auf dem Dresdner Parteitag der SPD Generalsekretärin werden möchte. Bei aller Schönheit der Umgebung, Andrea Nahles macht sich Sorgen. Was ist passiert mit der Partei? "Wir haben unsere Unterstützer, unsere Anhänger enttäuscht. Wir haben den emotionalen Zugang, den Draht verloren."

Der Fadenriss der SPD

Das sei keineswegs erst bei dieser Bundestagswahl deutlich geworden. Man habe ja die gelben Karten, die "uns gezeigt wurden" nicht übersehen können: "Und jetzt haben wir ganz klar, ganz unmissverständlich einen Platzverweis bekommen; ich glaube, weil die Menschen darauf gehofft haben, hey, kapiert's doch endlich mal.

Wir wollen, dass ihr euch wieder um uns kümmert, dass ihr uns ernst nehmt, dass ihr unsere Abstiegsängste wahrnehmt. Aber ihr erzählt uns immer nur oberlehrerhaft, warum das alles so sein muss und nicht anders geht." Sie stützt ihre Ellenbogen auf den klei­nen Kaffeehaustisch, beugt sich vor und schaut sehr ernst: "Wer jetzt nichts ändert, der ist nicht mehr zu retten." Zwischendurch stochert sie in ihrem Feldsalat mit Entenbrust. Sie hat die Verwarnung der Wähler verstanden und traurig ist sie auch: "Als ich dieses Ergebnis gehört ha­be, war das wie ein dumpfer Schlag, der eigentlich mit jeder Stunde, die das weiter ging, schlimmer wurde. Manchmal wache ich morgens auf und muss mir noch mal kurz klar machen, was da passiert ist. Für eine so stolze Partei wie die SPD ist das eine wirklich bittere Erfahrung."

Es ist dunkel geworden. Die alten Straßenlaternen beleuchten den laubbedeckten Garten zwischen Literatur- und Käthe-Kollwitz-Haus. Andrea Nahles redet weiter: "Wir haben uns nicht genug um die Ängste der Menschen gekümmert. Wir haben Vertrauen verloren. Wir haben keine Machtoption gehabt." Und dann kommen diese beiden Sätze: "Aber der Kern der Sache ist, dass wir in Wirklichkeit einen Fadenriss hatten. Wir haben die Herzen der Menschen nicht mehr erreicht." Sie macht eine Pause.

Das »rote Möhrchen« Praktikum

Sie kommt auf die Herzlosigkeit zurück: "Es lag am Gesamteindruck, den wir vermittelt haben, an der Art, wie wir mit den Leuten geredet haben. Ich habe mal den Begriff geprägt, das ist wie Kalte-Frosch-Rhetorik gewesen." Beim Arbeitslosengeld II, auch bei den Anliegen der Jüngeren. "Was für Angebote kriegen die nach guter Ausbildung, nach Auslandsaufenthalten? Denen wird ein rotes Möhrchen hingehalten, das heißt Praktikum und zwar für lau."

Sie sei ja niemand, der sagt, man könne den Leuten immer eine Lösung versprechen: "Aber wir haben nicht vermittelt, dass es uns selbst ein Herzensding ist, diese Ungerechtigkeit im Alltag wahrzunehmen und das, was ist, auszusprechen. Es geht gar nicht immer um eine schnelle Lösung. Die Menschen wollen einfach merken: Bei denen bin ich richtig. Die nehmen mich ernst. Die vertreten so gut sie können meine Interessen."

Was ist mit ihrer SPD geschehen? Diese Frage treibt Andrea Nahles um. Und noch eine zweite: "Begreifen wir unsere alten und die neuen Mitglieder als etwas Kostbares? Wo sind die Andockmöglichkeiten für Menschen, die der SPD nahe stehen, aber wenig Zeit haben? Wie können sie uns unterstützen? "Wir haben keine Häfen, wo sie einlaufen können, wenn ich es mal in ein Bild packe." Sie weiß, sie muss die Partei renovieren: "Ja, ich bin geübt im Renovieren. Ich habe 1999 in der Eifel das Haus meiner Urgroßeltern gekauft und es zehn Jahre lang mit Hilfe meiner Eltern renoviert. Das war damals ein altes Gemäuer. Heute ist es ein Schmuckkästchen. Renovieren braucht Zeit. Wir müssen uns diese Zeit jetzt nehmen. Mein Vater ist Maurermeister. Von dem habe ich gelernt, man darf nicht huddeln und pfuschen beim Fundament, sonst gibt es einen feuchten Keller."

Kein Tisch ist mehr frei im Literaturcafé. Andrea Nahles schaut auf die Uhr. Sie müsse bald weg.Ein paar Korrekturen an ihrem neuen Buch seien noch nötig: "Wir brauchen eine gründliche Analyse. Wir müssen die Leute wieder mitnehmen und daraus neue Kraft entwickeln. Und wir müssen zusammenhalten, wenn wir diesen Weg gehen."


Zwei Dinge sind ihr dabei besonders wichtig. "Die Partei muss durchlässiger werden. Sie war einmal ein sehr schöner Korallenschwamm. Der ist ein bisschen grau geworden. Ein bisschen viel Algen und Tang versperren den Blick. Aber durch eine sehr nachhaltige ökologische Betreuung kann man das wieder klar kriegen."
Sie steht auf, nimmt ihre dunkle Handtasche und lässt sich auch jetzt von ihrem Handy nicht stören. "Wir brauchen wieder eine Kultur des Zweifels, wie Willy Brandt es formuliert hat. Ohne diese Kultur des Zweifels kann man nicht kreativ sein. Zweifel und Fortschritt gehören zusammen. Eine Partei, die nur den Fortschritt betont, aber den Zweifel an der eigenen Antwort nicht zulässt, ist am Ende ausgetrocknet."

Autor*in
Jörg Hafkemeyer

ist Journalist, Gast-Dozent für Fernsehdokumentation und -reportagen an der Berliner Journalistenschule und an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin sowie Honorarprofessor im Studiengang Kulturjournalismus an der Berliner Universität der Künste (UdK).

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