Parteileben

„Wir geben unsere Werte nicht preis“

Nachdenklich und ohne alte Reflexe zu bedienen, müsse im Angesicht terroristischer Anschläge über Vorratsdatenspeicherung, aber auch über die Bedingungen für Einwanderer gesprochen werden, fordet SPD-Chef Sigmar Gabriel.
von Yvonne Holl · 16. Februar 2015
Sigmar Gabriel Interview
Sigmar Gabriel Interview

Was hat sich durch das Attentat auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ auch in Deutschland verändert?

Zuallererst haben viele Menschen natürlich jetzt Angst, dass auch unser Land Angriffsziel von islamistischen Fanatikern werden könnte. Deshalb ist es gut, dass es überall eine erhöhte Wachsamkeit gibt und die Polizei und Staatsanwaltschaften ihren Ermittlungsdruck auf die gewaltbereite Islamistenszene erhöht haben. Aber es gibt trotz der schrecklichen Morde ja auch wirklich Vieles, was uns Mut und Zuversicht geben kann. Denn weder die Terroristen noch diejenigen Rechtsradikalen, die auf den Morden von Paris ihr politisches Süppchen kochen wollen, haben ja Erfolg. So sehr wie die Mörder und die radikalen Ideologen aller Seiten unsere Gesellschaft spalten wollten, so sehr haben sie dazu beigetragen, dass wir zusammenstehen. In vielen Städten in Deutschland und Europa haben sich Millionen Menschen versammelt, um für Freiheit, Meinungsfreiheit und gegen Fremdenfeindlichkeit zu demonstrieren. Das zeigt: Wir haben eine starke demokratische Zivilgesellschaft.

Die sicherste demokratische Bastion ist die demokratische Gesinnung der Bürgerinnen und Bürger eines Landes. Das sind Ihre Worte. Wie schützt Gesinnung vor Terror?

Die Attentäter von Paris heben unsere Demokratie nicht aus den Fugen. Wir geben auch unter der Bedrohung durch Terror unsere Werte nicht preis. Das gilt auch, wenn wir jetzt darüber nachdenken, ob wir noch mehr tun können, um uns gegen einen gut ausgerüsteten Terrorismus zu schützen. Ich finde, wir sollten das mit Nachdenklichkeit und ohne die alten Reflexe tun, wo der eine schon immer weiß, was richtig ist und der nächste schon immer wusste, dass genau das falsch sei.

Gilt diese neue Nachdenklichkeit nur für die Sicherheitspolitik?

Diese neue Nachdenklichkeit muss beginnen bei den Bedingungen unserer Einwanderergesellschaft, wo wir vor allem vielen Kindern und Jugendlichen längst nicht genug Chancen geben. Auch unsere Städte und Gemeinden sind überfordert. Flüchtlingsunterbringung muss endlich vom Bund bezahlt werden, damit die Kommunen ihr Geld in Kitas, Schulen, Kultur und soziale Angebote investieren können. Aber auch über unsere Sicherheitsgesetze müssen wir offen reden. Es ist Unsinn, sich ständig in die politischen Schützengräben einzugraben, wenn es um die Vorratsdatenspeicherung geht. Sie ist weder ein Allheilmittel noch unter allen Umständen richtig, noch ist sie per se gefährlich oder falsch. Die SPD hat darüber Gott sei Dank schon 2010 und 2011 lange diskutiert. Wir Sozialdemokraten haben einen klugen Vorschlag entwickelt, wie wir unter strengen Vorgaben wie Richtervorbehalt und nur für schwerste Straftaten die bei den Telekommunikationsunternehmen gespeicherten Kommunikationsdaten zur Strafverfolgung und zur Verhinderung weiterer Straftaten nutzen sollten. Daran sollten wir anknüpfen. Eine neue Nachdenklichkeit in dieser Debatte täte allen sehr gut und würde am Ende die Sicherheit in unserem Land erhöhen.

In der Stunde der Trauer und Fassungslosigkeit haben Muslime, Christen, Juden und Atheisten gemeinsam Toleranz hochgehalten. Was kann getan werden, damit dieser Zusammenhalt auch auf längere Sicht Bestand hat?

Bundespräsident Gauck hat es am Brandenburger Tor auf den Punkt gebracht: Wir alle sind Deutschland. Ich finde, besser kann man das kaum ausdrücken. Die Terroristen versuchen, unsere Gesellschaft zu spalten. Damit dürfen sie keinen Erfolg haben. Für ein erfolgreiches Zusammenleben brauchen wir aber mehr als das Bekenntnis, dass die Muslime und der Islam zu Deutschland gehören. Dass heutzutage auch die CDU-Vorsitzende bereit ist, die Realität anzuerkennen, dass die seit Jahrzehnten eingewanderten Menschen auch ihre Religion mitgebracht haben, ist ein Fortschritt für die deutschen Konservativen. Doch besteht natürlich die Gefahr, dass der Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“ zu einer hohlen Phrase verkommt, wenn wir nicht auch die Voraussetzungen dafür schaffen, die ein Einwanderungsland braucht: zum Beispiel ein Einwanderungsgesetz, in dem klar beschrieben ist, wer kommen und bleiben kann und wer nicht, eine Bildungsoffensive für alle, die bereits hier sind und vieles andere mehr.


Rechtsextreme und Populisten, Pegida- und AfD-Anhänger versuchen, die terroristischen Anschläge für ihre Ziele zu instrumentalisieren und daraus eine allgemeine Bedrohung durch den Islam abzuleiten. Was ist die angemessene Reaktion?


Den Terror zu benutzen, um unsere muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger auszugrenzen und gegen Flüchtlinge zu hetzen, ist kaum zu ertragen. Deshalb freut es mich, dass in ganz Deutschland viel mehr Menschen gegen Ressentiments und Fremdenfeindlichkeit auf die Straße gehen als dafür. Was wir ernst nehmen müssen, ist die weit verbreitete Politik- und Politikerverachtung, die wahrnehmbare Entfremdung zwischen den etablierten Strukturen unserer parlamentarischen Demokratie und vielen Bürgerinnen und Bürgern. Wir sollten die Forderung nach mehr Teilhabe nicht den Rechtspopulisten und ideologischen Drahtziehern von Pegida überlassen. Volksentscheide auf Bundesebene zum Beispiel hätten eine heilsame Wirkung auf Parteien und Regierungen, die sich weit mehr Mühe in der Begründung ihrer Vorhaben geben müssten.


Laut Religionsmonitor der Bertelsmannstiftung halten 57 Prozent der Deutschen den Islam für eine Bedrohung. Welche Aufgaben an die Politik ergeben sich aus solchen Umfrageergebnissen?


Wir müssen noch mehr auf Begegnung, Aufklärung und Information setzen. Bemerkenswert ist ja, dass die Angst vor Muslimen dort am höchsten ist, wo die Leute gar keine Muslime kennen. Wo Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen zusammenleben, schwinden hingegen die Vorurteile. Aber wir müssen mehr tun. Vor allem geht es um Sicherheit. Damit meine ich ausdrücklich nicht nur die objektive Sicherheit, sondern auch das Gefühl, sicher zu leben. Nichts dient hier dem friedlichen Zusammenleben so sehr, wie eine stabile Gemeinde oder Stadt.


Brauchen wir eine Diskussion über die Integration in Deutschland?

Der Begriff Integration greift zu kurz. Viele adressieren ihn ausschließlich an die Zu- und Eingewanderten. Gefordert sind aber wir alle. Auch wir, die Mehrheitsgesellschaft, müssen uns verändern und dazu bekennen, dass auch der Islam zu Deutschland gehört. Und gefordert sind natürlich die Muslime. Es gibt keinen Zweifel daran, dass ihre überwältigende Mehrheit die Grundwerte einer freiheitlichen Gesellschaft teilt und Terrorismus ablehnt. Und doch erleben wir in Deutschland neuen Antisemitismus. Die Anforderungen an den modernen Islam sind sehr konkret: Überwindung des Judenhasses, gleiche Rechte für Frauen und Männer, keine Fortsetzung nahöstlicher Konflikte in deutschen Schulen – um nur ein paar zu nennen.


Benötigt unsere Gesellschaft ein neues Leitbild für das Zusammenleben der Kulturen?


Die „Leitkultur“ für alle, das sind die ersten 20 Artikel unserer Verfassung. Wer sie durch sein Handeln verletzt, der stellt sich gegen unsere freiheitliche Gesellschaft

Autor*in
Yvonne Holl

ist Redakteurin für Politik und Wirtschaft.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare