„Wir brauchen Leute mit Überzeugungen und Visionen“
Und doch hat er eine lupenreine sozialdemokratische Biografie: Nach der Mittleren Reife machte er eine Schriftsetzerlehre, engagierte sich bei den Jungsozialisten und in der Kommunalpolitik seiner Heimatstadt Lübeck. Er studierte auf dem Zweiten Bildungsweg, ist Diplom-Politologe und war Dozent in der Jugend- und Erwachsenenbildung. Von 1969 bis 1983 war er im Bundestag, stets direkt gewählt in seinem Wahlkreis Lübeck. Er machte rasch Karriere: Unter Helmut Schmidt war er Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, dann Ministerpräsident in Schleswig-Holstein. 1991 wurde er zum Vorsitzenden seiner Partei gewählt und war damit designierter Kanzlerkandidat der SPD. Der aktuelle SPD-Chef Sigmar Gabriel würdigt, dass Engholm in den bewegten Zeiten nach der Wende, der Partei „einen klaren Kompass und Orientierung gegeben hat.“
Von einem Tag zum anderen war alles zu Ende. 1993 trat er von allen Ämtern zurück. Es wurde bekannt, dass er als Herausforderer von den Machenschaften des Ministerpräsidenten Uwe Barschel gegen ihn früher gewusst hatte, als er das im Untersuchungsausschuss eingeräumt hatte. Es war eine verzeihliche Sünde innerhalb dieser unappetitlichen Affäre mit dem Ziel, ihn politisch und menschlich zu vernichten. Doch – anders als viele Sozialdemokraten und privaten Freunde – steht er bis heute zu diesem Rückzug, der für die SPD ein Schock war. In einem Interview vor wenigen Jahren sagte er, für einen Fehler müsse man eintreten, „weil sonst das Wahlvolk denkt, die können sich alles leisten.“
Weg von den Karrieristen
Erst beim Blick zurück wird deutlich, wie sehr die Sozialdemokraten unter Willy Brandt und Helmut Schmidt in den 70er Jahren das Land verändert haben. Das galt auch für die Bildungs- und Wissenschaftspolitik, für die Björn Engholm stand: „Wir haben versucht, diese Schichtenorientierung des Bildungswesens aufzulösen“, sagte er später und verwies mit Stolz darauf, dass damals der Anteil der Arbeiterkinder an der höheren Bildung gestiegen ist. Zweite Bildungswege wurden gefördert, Fachhochschulen gegründet und benachteiligten Jugendlichen neue Chancen eröffnet.
Bei allem politischen Engagement hat sich Engholm nie gänzlich von der Politik vereinnahmen lassen. Das hat ihm vermutlich nach 1993 den Einstieg in ein anderes Leben leichter gemacht. In all den Jahren hat ihn das Thema Dauerstress in der Politik und im Arbeitsleben beschäftigt. In einem Interview für Spiegel Online sagte er: „Die Leute müssen einfach wieder lernen, dass ihr Zugang zur Welt nicht allein das Internet ist, sondern die Summe ihrer fünf Sinne. Wir erleben eine Entsinnlichung und müssen zurück zur Achtsamkeit.“ Von Politikern – oder jenen, die eine politische Karriere ansteuern - erhofft er sich „mehr Herz und Leidenschaft“. Im Tagesspiegel hat er das konkretisiert: „Wir müssen weg von den Typen, denen man ansieht, dass sie in der Politik nur Karriere machen wollen. Wir brauchen Leute mit Überzeugungen und Visionen.“
(† 2023) war freie Journalistin in Bonn und Erhard-Eppler-Biografin.