Wie kann sozialdemokratische Identitätspolitik aussehen?
IMAGO/Willi Schewski
Was hat die Grundwertekommission dazu bewogen, der Identitätspolitik ein Positionspapier zu widmen?
Unsere Gesellschaft wird immer vielfältiger, und das ist eine enorme Bereicherung. Politisch bedeutet das aber, dass all diejenigen, die in der Vergangenheit übersehen, ausgeschlossen oder diskriminiert wurden, nun einfordern, was das Grundgesetz allen verspricht: in Würde in einer Gesellschaft der Freien und Gleichen zu leben. Diese Emanzipationsbewegungen muss die Sozialdemokratie solidarisch unterstützen. In den Kulturkämpen mit den Rechten sollten wir daher fest an der Seite der Diskriminierten und Ausgeschlossenen stehen.
Allerdings ist auch nicht zu übersehen, dass sich in einige linksidentitäre Theorien Fundamentalismen eingeschlichen haben und es in der aktivistischen Praxis mitunter zu Exzessen kommt, die kontraproduktiv sind. Den berechtigten Forderungen nach größerer Sichtbarkeit einiger Gruppen dürfen nicht die demokratischen Grundprinzipien, etwa die Meinungsfreiheit aller anderen, geopfert werden. Es führt auch in die Irre, wenn die emanzipatorischen Kämpfe einer Gruppe gegen die einer anderen gestellt werden. Es ging der Grundwertekommission darum zu zeigen, wie wir die gemeinsamen Kämpfe so führen, damit sie am Ende Erfolg haben.
Es gibt immer wieder die Kritik, die Identitätspolitik würde „die wirklich wichtigen Themen“ wie etwa Verteilungsfragen von der politischen Agenda verdrängen. Wie sehen Sie das?
Das ist ein Scheinwiderspruch, der nicht mit der demographischen Realität einer bunten Gesellschaft übereinstimmt. Große Teile des ausgebeuteten Dienstleistungsprekariats sind heute People of Colour. Jede alleinerziehende Mutter, die Beruf und Familie vereinbaren muss, weiß, dass Geschlecht und Klasse untrennbar miteinander verwoben sind.
Wie lassen sich dann linksidentitäre Ansätze und Verteilungsfragen zusammenbringen?
Linke Identitätspolitik stellt wichtige Fragen. Wer ist sichtbar, wer bleibt unsichtbar? Wer spricht, und wer muss stumm bleiben? Wer hat Privilegien, und wer wird ausgeschlossen? Auf diese Fragen müssen wir überzeugende Antworten geben. Repräsentation in demokratischen Institutionen, Beteiligung an Entscheidungsprozessen und Sichtbarkeit im medialen Diskurs sind sozialdemokratische Grundwerte. Allerdings darf es nicht bei symbolischen Politiken bleiben. Diskriminierungen und Ausschlüsse finden im Alltag vieler Menschen etwa auf dem Wohnungsmarkt oder beim Zugang zu Bildung statt. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist eine ursozialdemokratische Forderung.
Wie kann also eine sozialdemokratische Identitätspolitik aussehen?
Die Sozialdemokratie steht fest an der Seite emanzipatorischer Kämpfe um gleiche Rechte und Zugänge und gegen Ausschlüsse und Diskriminierung, grenzt sich aber von fundamentalistischen Exzessen ab. Die Sozialdemokratie hat ihre Wurzeln in den universalistischen Werten der Aufklärung wie Gleichheit, Freiheit, Solidarität. Das spricht keinesfalls gegen die Sonderbehandlung benachteiligter Gruppen, wenn es etwa um die Beseitigung historischen Unrechts oder die Herstellung gleicher Lebenschancen geht. Wir sollten uns aber klar gegen Nullsummenlogiken stellen, die die Gesellschaft in miteinander konkurrierende Stämme spaltet. Emanzipatorische Kämpfe werden auch keinen nachhaltigen Erfolg haben, wenn die Mehrheit das Gefühl hat, pauschal zum Buhmann gemacht zu werden.
Sozialdemokratie spielt nie eine Gruppe gegen eine andere aus. Im Gegenteil müssen wir die verschiedenen Kämpfe solidarisch vereinen, um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken. Das ist, was die Formel des Respekts ausdrückt: Respekt für People of Colour und queere Menschen, die sich ausgeschlossen fühlen; Respekt für die Malocher, die das Land am Laufen halten, um ihre Familien durchzubringen; Respekt für die Menschen im Osten, die ihre Lebensleistung entwertet sehen; Respekt für die Menschen in strukturschwachen Gegenden, die sich im Stich gelassen fühlen; Respekt für die Stinknormalen, die ihren Lebensstil verunglimpft sehen. Über die Brücke des Respekts können wir alle gehen.
Das Interview wurde schriftlich geführt.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.