Wie Franziska Giffey Regierende Bürgermeisterin von Berlin werden will
Ingo Herpolsheimer ist wütend. Am Wochenende sind trotz fehlender Genehmigung mal wieder tausende Impfgegner*innen, Querdenker*innen und Verschwörungstheoretiker*innen durch Berlin gezogen. „Ich wünsche mir, dass ich für diese Leute nicht mehr meinen Laden zumachen muss“, sagt Herpolsheimer. Er ist Geschäftsführer eine Spielzeugladens in Berlin-Steglitz mit 37 Mitarbeiter*innen. Monatelang war der Laden wegen der Corona-Pandemie geschlossen, wofür der Unternehmer durchaus Verständnis zeigt: „Für mich haben die Maßnahmen gepasst. Mir war im Dezember schon klar, dass wir bis mindestens Ostern geschlossen haben werden.“
Wofür er kein Verständnis hat, ist, dass Menschen sich nicht gegen Covid-19 impfen lassen wollen, obwohl es dafür inzwischen ausreichend Möglichkeiten gibt. Franziska Giffey, Vorsitzende und Spitzenkandidatin der Berliner SPD, hört dem Unternehmer aufmerksam zu. Sie teilt dessen Haltung, spricht sich auch gegen weitere Lockdowns aus. Stattdessen kommt sie zu dem Schluss: „Ungeimpfte dürfen dann eben bestimmte Sachen nicht mehr.“ Doch Giffey will nicht nur zuhören und reden, sondern lieber machen. Deswegen hat sie gemeinsam mit ihrem Co-Vorsitzenden Raed Saleh am Dienstag ihr „Zukunftsprogramm Neustart“ vorgestellt.
Mit Paris und Barcelona mithalten
Der Plan sieht vor, bis 2025 eine Milliarde Euro in diejenigen Branchen zu investieren, die laut der Berliner SPD besonders stark unter der Corona-Pandemie gelitten haben. Dazu zählen Hotel- und Gastgewerbe, Veranstaltungswirtschaft, Einzelhandel und Kulturwirtschaft. Durch ein „Jahrzehnt der Investitionen“ will die SPD sicherstellen, dass Berlin mit Weltstädten wie Paris, London und Barcelona im Wettstreit um Messen, Tourist*innen und Veranstaltungen konkurrieren kann. Doch auch die Berliner*innen haben Giffey und Saleh im Blick. Nach ihrer Vorstellung soll es künftig einmal im Jahr einen „Tag der Kultur“ mit kostenlosem Eintritt in Clubs, Opern und Theater geben. Alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 16 und 21 Jahren sollen zusätzlich einmalig einen Kulturgutschein in Höhe von 100 Euro erhalten.
„Man spart nicht in der Krise, sondern wir wollen aus der Krise herauswachsen“, betont Saleh daher. Zuspruch kommt aus den betroffenen Branchen. Berndt Schmidt, Intendant des Friedrichstadt-Palastes, betont: „Ich habe gar kein SPD-Parteibuch, aber ich bin extrem gerne hier.“ Er lobt insbesondere Giffey und Saleh: „Sie bleiben wirklich dran.“ Auch Christian Andresen, Präsident des Hotel- und Gaststättenverbands Berlin, sagt: „Wir begrüßen dieses Neustartprogramm sehr. Wir müssen mit Blick auf die Zukunft klotzen statt kleckern.“
Angst vor 2022
Doch Giffey reicht der Zuspruch der Branchenspitzen nicht. Sie will mit den betroffenen Unternehmer*innen vor Ort sprechen und ist daher einen Tag lang für ihre Berliner Sommerreise mit einem Doppeldeckerbus quer durch die Stadt unterwegs. Im Hotel Kastanienhof im Stadtteil Mitte berichtet Besitzer Uwe Hauptmann von seiner schwierigen Lage angesichts der Pandemie. 1992 hat er das Hotel eröffnet. Zwei Drittel seiner Mitarbeiter*innen seien seit mehr als zehn Jahren bei ihm beschäftigt. „Ohne das Kurzarbeitergeld hätten wir nicht überlebt“, sagt er.
Inzwischen ist das Hotel wieder geöffnet, wenngleich die Auslastung nur bei 50 Prozent liegt. Sorge bereitet Hauptmann die fehlende mittelfristige Perspektive: „Dieses Jahr wird jedes Unternehmen mit Bundeshilfen überstehen. Angst habe ich vor dem Start ins Jahr 2022, wenn die Bundeshilfen auslaufen.“ Giffey nickt und verspricht Unterstützung, auch dafür sei das Neustart-Programm gedacht. „Es geht nicht darum, eine ideologische Politik zu machen, sondern pragmatisch, bürgernah und lösungsorientiert zu unterstützen“, sagt die Berliner SPD-Chefin.
Giffey ist bekannt und beliebt
In Steglitz macht Giffey Halt bei einem Friseursalon. „Guten Tag, wir wollten mal die Chefin sprechen“, sagt sie und erkundigt sich bei dieser nach ihrer Situation. Vor allem die Ungewissheit sei kräftezehrend gewesen, berichtet die Friseurmeisterin. „Man wusste nicht, wie lange es noch dauert, aber wir haben es gut gerockt.“ Auch sie sagt, dass das Kurzarbeitergeld, das sie zudem vollständig aufgestockt habe, sehr geholfen habe.
Giffey muss auf ihrer Tour zu den Unternehmer*innen immer wieder Halt machen. Denn die Spitzenkandidatin der Berliner SPD zur Abgeordnetenhauswahl am 26. September ist bekannt und beliebt. Giffey will Regierende Bürgermeisterin werden und viele Berliner*innen wollen das offenbar auch. Eine Passantin kritisiert jedoch, die SPD sei nicht präsent genug. Giffey antwortet: „Aber ich bin doch jetzt da und ab Sonntag hängen die Plakate.“ Bevor sie weitergeht, lächelt sie die Frau an und zeigt auf ihr rotes Kostüm: „Gute Farbe, ne?“ Im eingangs erwähnten Spielzeugladen strahlt eine Kundin, als sie Giffey erblickt: „Schön, Sie zu sehen!“
„Die Beste von allen Kandidaten“
Weniger freundlich gesinnt erscheint zunächst ein Schuhhändler einige hundert Meter weiter: „Es gab Riesen-Versprechungen von der Politik, aber wir haben bisher keinen Cent bekommen. Wir sind total benachteiligt.“ Er habe gegen die Überbrückungshilfen geklagt. Weil das Verfahren noch laufe, sei bislang nichts an ihn ausgezahlt worden. Er klagt über „Bürokratismus“ und bittet Giffey, seine Probleme zur Kenntnis zu nehmen. Diese antwortet: „Ich nehme es nicht nur zur Kenntnis, sondern mache mir auch Gedanken, wie man es verbessern kann.“ Eine Haltung, die ankommt. Denn der Händler sagt: „Sie sind die Beste von allen Kandidaten, wenn ich das mal so persönlich sagen darf.“ Keine schlechten Voraussetzungen, um Regierende Bürgermeisterin zu werden.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo