Wie ein Arzt aus Hannover Geflüchteten aus der Ukraine hilft
Dr. Wjahat Waraich
Nächste Woche fährt Wjahat Waraich wieder nach Medyka, einem Dorf im Südosten Polens an der Grenze zur Ukraine, 80 Kilometer von Lwiw entfernt. Es ist der Grenzübergang, der von den mehr als 4,5 Millionen geflüchteten Menschen aus der Ukraine bislang am meisten frequentiert worden ist. Bereits im März, kurz nach Kriegsausbruch, war der Arzt aus Hannover in Medyka, um dort medizinische Strukturen zur Erstversorgung der Flüchtenden aufzubauen. „Es war schon erschreckend für mich, in die Gesichter zu schauen und zu sehen, welches Leid und welche Schrecken sie erlebt haben“, sagt der 34-Jährige.
50 Waisenkinder aus der Ostukraine
Normalerweise arbeitet er als Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe in einem Krankenhaus in Hannover. Doch zwei Wochen im Jahr engagiert er sich für die Hilfsorganisation „Humanity First“ für die medizinische Versorgung in Entwicklungsländern. Damit begonnen hat er bereits während seines Medizinstudiums 2010, als er im westafrikanischen Benin tätig war. Den Geflüchteten aus der Ukraine zu helfen ist Waraich ein besonderes Anliegen. Denn seine eigene Familie musste in den 80er-Jahren, noch vor seiner Geburt, wegen religiöser Verfolgung aus Pakistan nach Deutschland fliehen. „Die Chance, die meine Eltern bekommen haben, hat letztlich ermöglicht, dass ich hier zur Schule gehen, Abitur machen und Arzt werden konnte“, sagt er.
In Medyka trifft er auf Frauen, Kinder, Kranke und ältere Menschen. Waraich berichtet von einer 75-jährigen Frau, die vollkommen entkräftet unmittelbar am Grenzübergang zusammensackte und sich den Kopf aufschlug. Er berichtet von 50 Waisenkindern aus der Ostukraine, die bei zweistelligen Minusgraden mit Erfrierungen ersten und zweiten Grades an Händen und Fingern ankamen. „Das war erschütternd zu sehen und hat mir gleichzeitig Hoffnung gemacht, als es später allen gut ging und sie ihre Reise nach Österreich und Deutschland fortsetzen konnten.“
Warmes Essen und heiße Getränke für entkräftete Menschen
Erst einmal ging es ihm darum, die Menschen aufzuwärmen, sie mit warmen Essen und heißen Getränken zu versorgen. Viele standen unter Schock, merkten nicht, dass sie mit Wunden und Aufschürfungen ankamen, berichtet Waraich. „Meine Aufgabe als Arzt war es, aktiv auf die Menschen zuzugehen“. Inzwischen gibt es vor Ort eine funktionierende Erstversorgung. Eine Notfallambulanz verfügt über EKG- und Ultraschallgeräte, auch Infusionen sind möglich. In einer Schlafecke kam der Mediziner selbst nach langen Tagen wieder zu Kräften und konnte die Erlebnisse etwas sacken lassen. „Die Extreme begleiten mich in meiner Arbeit, es lässt einen nicht kalt, aber man lernt, damit professionell umzugehen, anders kann man es auch nicht aushalten“, sagt er.
Mit Geflüchteten aus der Ukraine hat Waraich auch zu Hause in Hannover zu tun. Seit der Kommunalwahl im Herbst 2021 ist er für die SPD Bezirksbürgermeister in Bothfeld-Varenheide, dem flächenmäßig größten Stadtbezirk in der niedersächsischen Landeshauptstadt. Hier leben 50.000 Menschen, zu denen bald wohl noch einige mehr hinzukommen. Zurzeit sind noch weit mehr als 10.000 Geflüchtete aus der Ukraine auf dem Messegelände in Zelten untergebracht.
Waraich: Fehler von 2015 nicht wiederholen
Waraich sieht es als große Herausforderung, sie so schnell wie möglich zu integrieren, sie in regulären Wohnungen unterzubringen, für Kinder den Besuch in Krippe, Kindergarten oder Grundschule zu ermöglichen. Besonders in „seinem“ kinderreichen Stadtbezirk sei das schwierig: „Es gibt schon seit Jahren einen Mangel und jetzt haben wir eine Notsituation, in der wir auch keine Plätze aus dem Hut zaubern können.“ Gleichzeitig macht er deutlich: „Wir können es uns nicht leisten, die Fehler von 2015 zu wiederholen, als die Menschen sehr lange keine Normalität erleben konnten.“
Solidarität zeigen und anderen Menschen helfen – das hat ihn im Studium auch zur Sozialdemokratie geführt, erzählt Waraich: „Ich bin ein klassisches Arbeiterkind. Mein Vater hat in den 80er-Jahren noch Torf gestochen, später Chemiekessel gereinigt und letztlich bei Madsack in der Verpackung gearbeitet. Als mein Vater nach Deutschland gekommen ist, war Helmut Schmidt noch Kanzler. Ihn hat die sozialdemokratische Politik sehr beeindruckt.“ Auch er selbst habe davon profitiert, zunächst durch das unter Willy Brandt eingeführte Bafög, später durch ein Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Hilfspakete aus dem Ahrtal
Nun möchte er etwas zurückgeben und fährt dafür nächste Woche erneut nach Medyka. Dort hat er auch zahlreiche andere Deutsche erlebt, die den Geflüchteten helfen. Besonders beeindruckt hat ihn das Engagement einer Fußballmannschaft aus dem Ahrtal, deren Mitglieder selbst bei der Flut im vergangenen Sommer viel Leid erfahren haben. Nun packten diese knapp 300 Hilfspakete mit Schokolade, Zahnbürsten, kleinen Geschenken und anderen Dingen, die Waraich an die Geflüchteten verteilte. „Das sind Momente, wegen denen ich sage: Darauf können wir in Deutschland stolz sein.“
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo