Parteileben

Wie der Bundestagsabgeordnete Tim Klüssendorf mit Vorurteilen punktet

So manche Menschen haben keine hohe Meinung von der Politik. Mit Werbung von „etablierten“ Parteien wollen sie nichts am Hut haben. Tim Klüssendorf gelang es trotzdem, mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
von Susanne Dohrn · 21. November 2023
Der Bundestagsabgeordnete Tim Klüssendorf vor seinen selbst entworfenen Plakaten

Der Bundestagsabgeordnete Tim Klüssendorf vor seinen selbst entworfenen Plakaten

Ganz schön mutig: Da lässt ein Bundestagsabgeordneter in seiner Heimatstadt Plakate aufstellen mit Slogans wie: „Die da oben versprechen viel und halten nix.“ Oder: „Die lassen sich doch eh nur vor den Wahlen bei uns blicken.“ Oder: „Die Politik hat doch gar keinen Bezug zur Realität.“ Die Signalfarben neon-gelb, neon-orange und neon-pink sorgen dafür, dass die Plakate weithin sichtbar sind. Unter den provokanten Slogans steht etwas kleiner: „Mach dir dein eigenes Bild“ und unten rechts in der Ecke der Hinweis – #timistdeinabgeordneter. Der vollständige Name fehlt ebenso wie der Hinweis auf eine Partei. Das war Absicht. „Wir wollten die Aufmerksamkeit auf den Inhalt lenken und zum Nachdenken anregen“, sagt Tim Klüssendorf über seine ungewöhnliche Halbzeitkampagne.

Etwas Neues wagen

Natürlich hätte er erzählen können, was er persönlich für seinen Wahlkreis in den ersten zwei Jahren seit der Bundestagwahl erreicht hat. Er hätte auch die Materialien nutzen können, die Partei und Fraktion für solche Kampagnen vorbereiten. Aber er ist überzeugt: „Das wird eher die bestärken, die mich sowieso gewählt haben.“ Tim Klüssendorf wollte mehr, etwas anderes, etwas Neues, um auch die zu erreichen, die den Glauben an die „etablierte“ Politik verloren haben. Dabei half ihm, dass er vom Fach ist: Er hat einen Masterabschluss in BWL mit Schwerpunkt Marketing.

Die Idee mit den Vorurteilen lag nahe. Politiker werden immer wieder direkt oder indirekt mit ihnen konfrontiert. Sie lesen sie in den Kommentarspalten der sozialen Medien. Sie werden ihnen in Bürgergesprächen an den Kopf geworfen. Tim Klüssendorf und sein Pressereferent Jakob Jürß begannen zu sammeln: Am Ende waren es mehr als 90 Vorurteile, aus denen sie die drei häufigsten, die Politik betreffenden, auswählten. Die Plakate gestaltete Tim an seinen Computer. Die großflächigen Plakate an 25 Standorten, mehrere Infostände, Videos und Anzeigen in den sozialen Medien sowie eine Kampagnenwebsite sorgten dafür, dass möglichst viele Menschen im Wahlkreis erreicht wurden. Auch zwei lokale Medien berichteten.

Das Unerwartete interessiert

Im Zentrum stand die Interaktion. Das Motto „Mach dir dein eigenes Bild“ war ernst und ehrlich gemeint: Als Aufforderung ins Gespräch zu kommen. Über das Scannen der QR-Codes gelangte man auf die Kampagnenwebsite und konnte sich dort die Videos zur Kampagne anschauen, in denen Klüssendorf auf die jeweiligen Vorurteile eingeht, und ein Feedback hinterlassen. Außerdem rief er über Instagram dazu auf, ein Foto von den Plakaten auf dem eigenen Social-Media-Profil, z.B. in der Instagram-Story, zu posten.

Verbunden damit war die Chance, dass Klüssendorf bei einem Anlass der Wahl Essen und Getränke für den oder die Gewinner*in und seinen Freundeskreis „sponsert“. „Wir wollten in die Freundeskreise der Menschen vorstoßen, die sich von der Kampagne angesprochen fühlten“, sagt der Bundestagsabgeordnete. Auch von vielen Genossinnen und Genossen erhielt er positive Rückmeldungen: „erfrischend“, „mal was ganz anderes“, „was Unerwartetes“. SPD-Voristzender Lars Klingbeil habe, als er von der Kampagne erfuhr, sofort eine WhatsApp geschickt: „Starke Kampagne“.

Wichtiger als der Zuspruch aus den eigenen Reihen war Klüssendorf jedoch, dass sich möglichst viele Bürgerinnen und Bürger direkt von den Slogans angesprochen fühlten. Dazu gehörten, explizit auch solche, die gänzlich andere politische Positionen haben, als er selbst. Klüssendorf: „Mir ist es enorm wichtig, regelmäßig aus der eigenen Blase rauszukommen.“ Das ist ihm und seinem Team gelungen. Er schätzt, dass über Social Media mehr als die Hälfte aller Lübeckerinnen und Lübecker erreicht wurden. Dazu kamen laut Daten des Plakatdienstleisters 143.000 erreichte Lübecker und Lübeckerinnen über die Plakate. Er und sein Team beantworteten hunderte Mails und Kommentare in den Sozialen Medien. Mit manchen Bürgerinnen und Bürgern begann ein ausführlicher Austausch.

Wegducken gilt nicht

Wann immer Klüssendorf im Wahlkreis ist, nimmt er sich viel Zeit. „Wer so eine Kampagne startet, muss das auch authentisch leben und Bock haben auf richtig harte Gespräche“, sagt er. Denn natürlich wird er auch mit den Vorurteilen konfrontiert, die er plakatiert hat. „Meist frage ich erstmal zurück, welche Vorstellungen der oder diejenige davon hat, wie ich lebe. Ich versuche dann zu vermitteln, worin meine Arbeit besteht und dass ich nicht so abgehoben lebe, wie manche sich vorstellen.“

Bekannt war Klüssendorf in Lübeck schon vorher, als Juso-Vorsitzender, Mitglied der Bürgerschaft für fünf Jahre, Wahlkampfmanager der Bürgermeisterkampagne von Jan Lindenau 2017 und danach seine rechte Hand. Inzwischen wird er noch häufiger angesprochen als zuvor. Kurze Anliegen bespricht er sofort. Wenn es um kompliziertere Themen geht, gibt nimmt er sich Zeit. „Wir können uns gerne unterhalten“, sagt er dann. „Machen Sie einfach einen Termin.“ Für jede Person nimmt er sich eine Stunde Zeit. „Davon habe ich mehr und meine Gesprächspartner auch.“

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Susanne Dohrn

ist freie Autorin und ehemalige Chefredakteurin des vorwärts.

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