vorwärts.de: Die Wahlbeteiligung sinkt, Großparteien und Gewerkschaften verlieren an Mitgliedern. Sind die Menschen politikverdrossen?
Sven Giegold: Dass Großorganisationen und den großen Parteien der Rücken gekehrt wird, heißt nicht, dass politisches Engagement verloren gegangen ist. Es hat sich allerdings verlagert, zum
Beispiel in das Online-Netzwerk
Campact mit seinen 250 000 Unterstützern. Oder auf politische Projekte und Aktionen. Bei der
Menschenkette gegen Atomenergie waren im April 140 000 Menschen. Gegen die
Castor-Transporte demonstrieren immer noch vor allem junge Menschen, die angeblich so politikverdrossen sind.
Es gibt also keine Politikverdrossenheit?
Wir leben in einer Zeit, die nicht so politisiert ist wie die 68er oder die frühen 1980er Jahre. Aber das politische Engagement ist nicht so schwach geworden, wie behauptet wird. Was uns
aber Sorgen machen sollte ist die Tatsache, dass politisches Engagement zunehmend ein Bildungsprivileg ist. Es ist gefährlich, dass sich abgehängte Teile der Bevölkerung von der Demokratie nichts
mehr erwarten und anfällig für Rechtspopulismus werden. Diese Gefahr ist in Deutschland absolut real.
Sie sind Mitbegründer von
Attac Deutschland. Seit 2008 sind Sie Mitglied der Grünen, seit 2009 Abgeordneter im Europaparlament. Davor waren Sie parteilos. Warum sind Sie in eine Partei
eingetreten?
Ich bin seit meiner Schulzeit in sozialen Bewegungen aktiv, habe alles gemacht: von der Gruppe vor Ort bis zur Koordinierung internationaler Kampagnen. Für mich persönlich war es Zeit, in
einem neuen Umfeld aktiv zu werden. Meine Inhalte sind weiter die gleichen. Die Arbeit im Europaparlament ist sehr viel offener und spannender als sie von Außen oft wahrgenommen wird. Ich konnte
in der kurzen Zeit einiges erreichen, was die EU-Finanzmarktregeln angeht.
Sie haben die Grünen früher auch kritisiert.
Während der rot-grünen Bundesregierung gab es gerade in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, meinem Schwerpunkt, negative Entwicklungen, die eigentlich nicht zu den Grünen passten. Dazu gehören
die Unterstützung des Hartz-IV-Kurses oder die Steuersenkungen. Die Basis der Grünen hat das nie wirklich mitgetragen - die der SPD übrigens auch nicht. Ich fand es spannend mitzugestalten, wie
sich die Partei in der Opposition neu aufstellt und bin ein wenig stolz darauf, die Konzeption des "Green New Deals" mitgeschrieben zu haben: ein sozialer Ausgleich, verbunden mit einer
tiefgreifenden ökologischen Transformation. Damit haben die Grünen wirtschafspolitisch zu ihren Wurzeln zurückgefunden.
Die Methoden politischen Druck auszuüben, sind in Parteien andere als in sozialen Organisationen. Wo sehen Sie die größten Unterschiede?
Die innere Logik einer Partei ist eine andere als die einer sozialen Bewegung: Ziel einer Partei ist es, über Wahlen die Regierungsmacht zu erlangen und dadurch zu verändern. Eine soziale
Bewegung versucht das ganz bewusst nicht. Dadurch ist sie ein Stück weit glaubwürdiger als Parteien, die aus der Regierungslogik heraus viele Kompromisse machen müssen.
Die Logik der Wahl prägt auch die Kultur in Parteien: Wer wird aufgestellt? Wie positioniert man sich, um gute Chancen zu haben? Viele sprechen nicht mehr aus, was sie eigentlich denken,
aus Angst abgestraft zu werden. All das ist verbunden mit einer "Ochsentour" vom Ortsverein bis in den Bundestag und womöglich weiter. Für viele Menschen, besonders für junge, ist das
abschreckend. In sozialen Bewegungen gibt es das nicht in diesem Maße.
Würde es Parteien attraktiver machen, wenn die "Ochsentour" nicht im Vordergrund stünde und Quereinsteiger es einfacher hätten?
Auf jeden Fall. So wären Parteien attraktiver für die Quereinsteiger und glaubwürdiger für viele Bürgerinnen und Bürger. Gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass die "Ochsentour" durch
alle Ebenen auch einen Wert hat.
Welchen denn?
Wären Parteien dominiert von Leuten wie mir - und dann noch aus anderen gesellschaftlichen Schichten, denn es kann ja nicht sein, dass Quereinsteiger nur aus sozialen Bewegungen kommen - dann
müsste man es sich so vorstellen: Der Wirtschaftsminister kommt aus einem Unternehmen, hat aber niemals die Realität eines Ortsvereins bzw. der Kommunalpolitik erlebt. Der Verteidigungsminister
käme direkt von der Bundeswehr usw. Dann hätte man eine Führungsschicht, die nie die praktische Erfahrung der Kommunalpolitik gemacht hat. Fatal!
Wie löst man das Problem?
Leute von Außen sollten schon größere Chance bekommen. Gleichzeitig braucht es mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten, ohne gleich in Gremien oder Mandate zu wollen. Rekrutierungsprobleme wird es
niemals für Landtage oder den Bundestag geben. Das Hauptproblem ist die kommunale Ebene. Wer soll denn in Zukunft angesichts leerer Kassen das Engagement vor Ort noch tragen? Die Gefahr von
Überalterung auf dieser Ebene ist aus meiner Sicht eines der größten Probleme unserer Demokratie.
Wie können Parteien es trotzdem schaffen, mehr junge Menschen anzusprechen?
Eines ist ganz entscheidend: Wenn die Atmosphäre erstmal von alten Leuten geprägt ist, dann ist es für jüngere sehr unattraktiv hineinzukommen. Das ist vor Ort oft das zentrale Problem.
Es ist eine ungelöste Frage der Demokratie, wie man Jugendliche vor Ort begeistern kann. Ich glaube, der Weg läuft über die Nachwuchsorganisationen und über neue Handlungsformen, die für
junge Leute attraktiver sind.
Welche sind das?
Ich gebe mehrere Beispiele: Spaßige politische Aktionen, an denen man sich beteiligen kann, ohne gleich Mitglied zu werden. Bei der Vergabe von Posten können Parteien eine aktive Politik der
Einladung noch Außerstehender machen. So wie die Quote zu mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Politik beigetragen hat, können auch neue Leute bei Mandaten Chancen bekommen. Leute, die erstmal
in dem Parteisystem sind, ziehen weitere nach. Aber wie gesagt, wenn die Atmosphäre einmal verschnarcht ist, ist guter Rat teuer.
Die Quote ist eine gute Idee, funktioniert aber nicht hundertprozentig.
Wenn wir nur machen, was hundertprozentig funktioniert, sind wir bald alle tot. Der Punkt ist: Es funktioniert. Bei uns Grünen haben Quote und Doppelspitze dazu geführt, dass die Zahl
aktiver Frauen bei uns sehr viel höher ist, als bei allen anderen Parteien.
Das Handelsblatt schrieb vor einiger Zeit: Sven Giegold "wechselt die Front", er soll bei den Grünen "die Basis der Sonnenblumenschwenker mit den Realos der Parteispitze versöhnen". Ist
die Differenz so eklatant?
Das sind zwei platte Pauschalierungen.
Es geht mir um die Differenz, ist sie so groß?
Nein, die Fundis gibt es doch gar nicht mehr. Die Grünen sind durch Kommunalpolitik und Regierungsbeteiligungen in vielfacher Weise Realos geworden. Allerdings gab es Auseinandersetzungen,
inwieweit die Grünen noch links sind. Das haben wir klar entschieden: Die Grünen sind nach wie vor Partei sozialer Gerechtigkeit, aber eigenständig. Doch der Makel von Hartz IV hängt an den
Grünen, genau wie an der SPD. Die ehrliche Aufarbeitung der Regierungszeit und programmatische Weiterentwicklung war daher entscheidend. Das ist glaubwürdiger zu vertreten, wenn man Leute dabei
hat, die den alten Kurs kritisiert haben. Ich bin einer von ihnen, zusammen mit Vielen in der Partei.
Interview: Birgit Güll
Sven Giegold ist Mitbegründer von Attac Deutschland. Seit 2008 ist er Mitglied der Grünen, für die er seit 2009 im Europäischen Parlament sitzt.
Goetz Schleser
ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.