Warum Sigmar Gabriel auf die Kanzlerkandidatur verzichtet
Ute Grabowsky / photothek.net
2017 ist ein Jahr der Weichenstellungen in Europa und in Deutschland. Die Bundestagwahl findet statt, in den Niederlanden und in Frankreich wird gewählt und ebenso in Nordrhein-Westfalen, im Saarland und in Schleswig-Holstein. Der neue amerikanische Präsident hat sein Amt angetreten. Es geht um die Frage, welche Richtung wir einschlagen: auf unserem Kontinent, in unserem Land und in unseren Beziehungen zu anderen Ländern, auch den USA.
Dieses Jahr ist anders als andere Wahljahre. Die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl wird deutlich zunehmen und die Wählerinnen und Wähler werden sich erst spät entscheiden, wen sie unterstützen. Denn die Menschen fühlen: Es geht um die Richtung und um die Balance in Deutschland.
Worum es bei der Bundestagswahl 2017 geht
Es geht um die demokratische Substanz: Wie können wir durch mehr Gerechtigkeit, mehr Zusammenhalt, mehr Chancen und mehr Sicherheit den Glauben an die Gestaltungsfähigkeit von Politik und Gesellschaft und den Optimismus für Fortschritt erzeugen, die notwendig sind für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Diese Richtungsfragen brauchen klare programmatische und personelle Alternativen. Die Menschen müssen erkennen, dass es wirkliche Alternativen in unserem Land gibt und Scheinlösungen eben keine Lösungen sind.
Und es geht um die Rolle und die Bedeutung der Sozialdemokratie. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern deutlich machen: Der Demokratie in Deutschland ging es immer dann gut, wenn es der SPD gut ging. Die Sozialdemokratie ist der Garant für eine starke, gerechte, fortschrittliche und demokratische Gesellschaft, in der miteinander, nicht gegeneinander gearbeitet wird. Eine starke SPD ist nötig, um den Rechtspopulismus in Europa und Deutschland in seine Schranken zu weisen. Und sie ist die Voraussetzung dafür, dass die zentralen Themen der Zeit, nämlich mehr Gerechtigkeit, bessere Bildung, leistungsfähiger Sozialstaat, faire Steuern und Löhne, eine arbeitnehmer- und verbraucherorientierte Digitalisierung und eine moderne Familienpolitik entschieden angepackt werden.
Dafür ist ein Politikwechsel nötig, denn wir sind am Ende dessen angelangt, was man mit einer in sich zerstrittenen CDU/CSU machen kann. Die Aufgaben, vor denen wir stehen, sind unübersehbar:
- Viel zu viele Menschen fühlen sich von demokratischer Politik nicht mehr angesprochen.
- Das weit verbreitete Misstrauen gegenüber der Politik, die keine Alternativen anbietet, sie erst recht nicht öffentlich diskutiert und sich nicht wirklich um die Sorgen vieler Menschen zu kümmern scheint, ist für Deutschland, für unser Gemeinwesen und unseren sozialen Zusammenhalt hochgefährlich. Wir wollen zeigen, dass es Alternativen zur gegenwärtigen Politik gibt – und zwar bessere.
- Wir wollen beweisen, dass der Gegensatz zwischen denen „da oben“ und denen „hier unten“, zwischen arm und reich, zwischen einflussreich und machtlos überwunden werden kann. Unter einer sozialdemokratisch geführten Regierung gehört jeder dazu. Dafür werden wir kämpfen.
- Die Gegensätze bestehen nicht nur in Deutschland, sondern noch mehr in Europa. Hier wird die Gefahr der Auflösung der EU immer deutlicher. Dem werden wir entschieden entgegensteuern.
- Die bisherige Politik von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble hat entscheidend zu den immer tieferen Krisen in der EU seit 2008, zur Isolierung einer dominanten deutschen Bundesregierung und – durch das unerbittliche Festhalten an der Austeritäts-Politik – zur hoher Arbeitslosigkeit außerhalb von Deutschland beigetragen. Eine Folge davon war die Stärkung antieuropäischer populistischer Parteien und die Beschädigung nicht nur der Demokratie, sondern auch eines guten Investitionsklimas. Auch unsere Regierungsbeteiligung in der großen Koalition hat zwar manches mildern können, aber die grundsätzliche Korrektur dieses Kurses war und wird mit CDU und CSU nicht gelingen. Dafür muss die SPD deutlich stärker werden und die nächste Bundesregierung anführen. Eine Fortsetzung der bisherigen Politik ginge auf Kosten eines nachhaltigen Wachstums. Das ist auch für Deutschland selbst gefährlich.
- Den Bürgerinnen und Bürgern muss wieder mehr Kontrolle über ihre Lebensverhältnisse zurückgegeben werden: Gestaltung von Arbeit, Bereitstellung von öffentlichen Gütern, Bildung, Gesundheit, bezahlbares Wohnen, Zeit für Familien, politisches Engagement, Vereine.
- Wir wollen ein menschenfreundliches, Teilhabe und soziale Sicherung beförderndes Reformverständnis zurückgewinnen. Wirtschaftliche Höchstleistung nicht gegen die Menschen sondern zusammen mit ihnen; Teamarbeit, Mitbestimmung statt eines alles beherrschenden Wettbewerbes; gesellschaftlicher Zusammenhalt durch Stärkung institutioneller Solidarität; Tarifautonomie und unternehmensübergreifende Tarif-Bindung, verlässliche Sozial- und Arbeitslosenversicherungen.
- Deutschland braucht einen Aufbruch, gegen die Verängstigung durch den Terror, gegen das Gefühl der Ohnmacht, gegen Mutlosigkeit und Resignation. Unser Ziel ist eine aktive freundliche Gesellschaft, in der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – in Deutschland, in Europa und global – zu wirklicher Sicherheit führen. Mauern und Stacheldraht, wie wir sie in Europa wieder hochziehen, werden sie auf Dauer nicht gründen. Sicherheit braucht die Freiheit und die Loyalität der Bürgerinnen und Bürger.
Dies sind die Themen, für die die SPD 2017 geschlossen antreten wird. Wir machen damit deutlich, welchen Kurs unser Land nehmen soll: Uns geht es nicht um die Wenigen, die schon genug haben. Uns geht es um die Vielen, die sich immer wieder neuen Aufgaben und Herausforderungen stellen, und die dies mit großer Anstrengung und teilweise unter großen Entbehrungen tun. Diese Leistung muss wieder stärker ideell und materiell anerkannt werden. Dies muss wieder zur Richtschnur der Politik in Deutschland werden.
Wir wollen außerdem mehr Sicherheit für unsere Bürgerinnen und Bürger. Wir treten jeder Form von Terrorismus, aber auch von Ausgrenzung entgegen. Es geht um die richtige Balance von Freiheit und Sicherheit für alle, die in Deutschland leben und die die demokratischen Grundwerte unserer Gesellschaft teilen. Wir wollen offen, tolerant, aber auch wehrhaft sein. Im Interesse der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger.
Vorschlag für den SPD-Kanzlerkandidaten
Ich habe in und außerhalb der SPD in den letzten Wochen mit vielen Menschen gesprochen und mich auch mit der SPD-Führung intensiv beraten, mit welchem personellen Angebot wir in diese so wichtige Richtungsauseinandersetzung gehen. Natürlich sind das unsere erfolgreichen SPD-Mitglieder im Bundeskabinett. Sie waren die Motoren der Regierungsarbeit der letzten mehr als drei Jahre. Gemeinsam mit den SPD-Bundestagsabgeordneten und den Wahlkreiskandidatinnen und -kandidaten treten wir für keine Koalition und für keine taktischen Überlegungen an, sondern für „150 Prozent“ Sozialdemokratie.
Dafür brauchen wir auch eine Person, die diesen Wahlkampf glaubwürdig repräsentiert und mit der wir die nächste Bundesregierung anführen und Angela Merkel und ihre zerstrittenen Parteien CDU und CSU ablösen wollen. Deshalb schlage ich vor, Martin Schulz als SPD-Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl 2017 zu nominieren und auf einem Parteitag wählen zu lassen. Und weil die Führung der SPD eindeutig und klar sein muss, schlage ich ihn auch als neuen Vorsitzenden der SPD vor.
Für einen glaubwürdigen Neuanfang zur großen Koalition
Martin Schulz genießt durch seine einzigartige Arbeit als Präsident des Europäischen Parlamentes, sein jahrzehntelanges Engagement gegen Rechtspopulismus und sein Eintreten für soziale Gerechtigkeit, Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt in Europa eine große Glaubwürdigkeit. Seine Kandidatur für das Amt des deutschen Bundeskanzlers und die Übernahme des Parteivorsitzes der SPD dokumentieren unseren Willen für einen echten Neubeginn in Deutschland und Europa. Unser Land, aber auch unser Kontinent müssen den Angriffen der neuen US-Regierung selbstbewusst entgegentreten.
Dafür müssen wir Deutschland und Europa neu einigen. Wir haben in dieser Legislaturperiode damit begonnen. Aber wir müssen erkennen: Die Zusammenarbeit mit CDU und CSU hat ihre Grenzen erreicht. Statt in die Zukunft zu investieren, werden unhaltbare Wahlversprechen auf Steuersenkungen gemacht. Statt die wachsende soziale Spaltung in Deutschland zu stoppen und für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, herrscht ideologische Blockade. Am schlimmsten aber ist die Lage in Europa: Bei allen Verdiensten Angela Merkels, die sie unbestreitbar hat, trägt sie doch gemeinsam mit ihrem Finanzminister Wolfgang Schäuble die Hauptverantwortung für die innere Spaltung der Europäischen Union. Wer wie Angela Merkel zwölf Jahre den Anspruch erhebt, die Europäische Union wirtschaftlich und politisch zu führen, der muss auch die Verantwortung für das schlimme Ergebnis dieser Politik übernehmen. Kein deutscher Bundeskanzler vor ihr hätte eine so große wirtschaftliche, soziale und politische Spaltung riskiert.
Es braucht also einen glaubwürdigen Neuanfang zur großen Koalition. Und den repräsentiert Martin Schulz in der deutschen Öffentlichkeit mehr als jeder andere von uns.