Warum Hilde Mattheis und Dierk Hirschel Parteivorsitzende werden wollen
Hilde Mattheis und Dierk Hirschel haben ihre Kandidatur am 12. Oktober zurückgezogen.
Warum wollen Sie Parteivorsitzende werden?
Personen folgen Inhalten. Wir wollen, dass die SPD wieder als Partei der Arbeit, der sozialen Gerechtigkeit und des Friedens erkennbar ist. Diese politische Haltung haben wir über Jahrzehnte hinweg glaubwürdig vertreten – bei Abstimmungen in Partei und Fraktion sowie in der Gewerkschaft. Wir machen ein klares inhaltliches Angebot an die Partei. Wir haben klare Vorstellungen, wie wir die Partei strukturell neu aufstellen und uns wieder stärker in der Zivilgesellschaft verankern.
Wie haben Sie sich zu diesem Duo gefunden und wo unterscheiden Sie sich?
Wir kennen uns seit vielen Jahren. Die ersten politischen Gespräche haben in einem Kreis um Ottmar Schreiner stattgefunden. Wir arbeiten seit vielen Jahren im Vorstand des Forums Demokratische Linke 21, die Linken in der SPD, zusammen. Wir sind uns einig, was die Diagnose der Krise unserer Partei anbelangt. Gleiches gilt für die Therapie.
Wir waren beide gegen den erneuten Eintritt der SPD in die Große Koalition. Der jüngste Absturz unserer Partei bestätigt unsere damalige Kritik. Wir haben unterschiedliche Schwerpunkte. Dierk ist Gewerkschaftler und Ökonom und kann sozialdemokratische Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik ausbuchstabieren. Hilde ist Gesundheitspolitikerin und hat darüber hinaus viel Sozial-, Frauen-, Friedens- und Umweltpolitik gemacht.
Warum sind Sie zur SPD gekommen?
Hilde Mattheis: Ich beschloss nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl von der Zuschauerbank runterzukommen. Die SPD war für mich immer die Partei, die meinem Streben nach sozialer und ökologischer Gerechtigkeit am Nächsten kam. Daher bin ich in die SPD eingetreten und aktiv geworden. Dabei prägte mich vom ersten Tag an die Arbeit der AsF.
Dierk Hirschel: Mein Großvater war Sozialdemokrat und im Widerstand gegen die Nazis. Er hat mir die sozialdemokratischen Grundwerte vermittelt. Die 1980er-Jahre waren die Zeit des großen Wettrüstens zwischen West und Ost. Ich bin damals zu den Jusos gegangen, weil die SPD für mich die Friedenspartei war, besonders verkörpert durch Willy Brandt.
node:vw-infobox
Was sind für Sie die drei wichtigsten Themen?
Erstens wollen wir, dass die SPD wieder stärker als Partei der Arbeit erkennbar wird. Zweitens wollen wir einen modernen Sozialstaat, der wieder in die Zukunft investiert. Drittens wollen wir den ökologischen Umbau unserer Gesellschaft so gestalten, dass es dabei gerecht zugeht.
Keines dieser Themen steht für sich allein. Die Klammer ist eine solidarische Gesellschaft und ein friedliches Miteinander. Die wichtigste Aufgabe einer sozialdemokratischen Partei ist die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung. Das bedeutet: Tarifverträge für alle durch eine politische Stärkung des Tarifsystems, Mindestlohn von mindestens zwölf Euro, Eindämmung von Mini-Jobs, Leiharbeit und Werkverträgen, keine sachgrundlosen Befristungen, Hartz IV abschaffen und soziale Berufe aufwerten. Ferner muss die SPD fortschrittliche Antworten auf den Wandel der Arbeitswelt durch Digitalisierung, neue Geschlechterrollen, demographischen Wandel und Migration geben. Hier geht es unter anderem um die Aufwertung von Dienstleistungsarbeit, Arbeitszeitsouveränität und Arbeitszeitverkürzung, Qualifizierung und Humanisierung der Arbeit.
Ein moderner Sozialstaat schafft die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit. Ein moderner Sozialstaat braucht soziale Sicherungssysteme, welche die großen Lebensrisiken absichern. Dafür muss die gesetzliche Rente wieder armutsfest und lebensstandardsichernd gemacht werden. Im Pflegesektor und in der Gesundheitsversorgung muss die Privatisierung gestoppt werden. Pflege und Gesundheit sind keine Ware. Wir müssen den öffentlichen Sektor ausbauen. Wir brauchen mehr öffentliche Investitionen und Personal bei Gesundheit, Pflege, Verkehr, Energie, Klimaschutz, sozialem Wohnungsbau, Verwaltung, ÖPNV und Digitalisierung. Das geht nicht mit einer Finanzpolitik der schwarzen Null und Schuldenbremsen. Eine umverteilende Steuerpolitik kann und muss die staatliche Einnahmebasis stärken. Deswegen muss die deutsche Steueroase für Konzerne, große Erben und Vermögende endlich ausgetrocknet werden.
Die fortschreitende Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen muss gestoppt werden. Das 1,5 Grad Klimaziel darf nicht verfehlt werden. Der ökologische Umbau gelingt aber nur, wenn die betroffenen Menschen mitgenommen werden. Wir müssen Umwelt, Arbeit und soziale Sicherheit miteinander verbinden. Deswegen muss der Ausbau der erneuerbaren Energien wieder vorangetrieben werden. Der Deckel für Wind- und Solarenergie muss weg. Zudem brauchen wir einen massiven Ausbau des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs. Eine Verteuerung des Energie- und Ressourcenverbrauchs (CO2-Steuer) muss für Gering- und Normalverdiener über Steuererleichterungen und Transfers sozial ausgeglichen werden. Die Finanzierung der Klimaschutzinvestitionen sollte über eine Vermögensabgabe erfolgen.
Was wollen Sie als Parteivorsitzende verändern?
Parteiarbeit muss basisorientierter sein. Die Mitglieder sollen künftig mitentscheiden. Ihre Anträge sollten auf Parteitagen vorrangig diskutiert werden. Im Parteivorstand sollten künftig nur noch maximal 50 Prozent Mandatsträger*innen und ihre Mitarbeiter*innen vertreten sein. Mindestens 50 Prozent der Mitglieder des PV sollten direkt aus den Kreisverbänden und Ortsvereinen kommen. Die Arbeitsgemeinschaften sollten, vertreten durch ihre Vorsitzenden, vollwertige Mitglieder des PV werden. Ihre Arbeit muss stärker unterstützt werden. Die politische Bildungsarbeit in der SPD muss wiederbelebt werden. Und der Austausch mit der Zivilgesellschaft muss intensiviert, der Lobbyismus abgebaut werden.
Wo seht ihr die größte Herausforderung, vor der die SPD steht?
Den Mut zu haben, sich klar von Inhalten, Strukturen und Personen zu lösen, welche die aktuelle Krise der Partei verursacht haben.
Wie steht ihr zu einer Regierungsbeteiligung der SPD im Bund?
Wer regiert, kann in unserer Demokratie gestalten. Entscheidend ist dabei, ob sozialdemokratische Inhalte in der jeweiligen Regierung zum Tragen kommen.
Hinweis in eigener Sache:
Liebe Leserinnen und Leser,
der „vorwärts“ hält Sie über das Verfahren für die Wahl des Parteivorsitzes auf dem Laufenden. Das betrifft das Verfahren genauso wie die Vorstellung der Kandidierenden oder später die Berichterstattung über Regionalkonferenzen. Anders als die klassischen Medien berichten wir als Mitgliederzeitung aber erst, wenn die Kandidierenden offiziell vom Wahlvorstand nominiert worden sind und damit auch alle vom Parteivorstand beschlossene Kriterien erfüllt haben. Dabei ist uns die Gleichbehandlung aller Kandidierenden wichtig. Deswegen stellen wir allen identische Fragen, und alle haben gleich viel Platz für das Interview. Über die Länge der Antworten zu den einzelnen Fragen können die Kandidierenden selbst entscheiden. Auf weitere Berichterstattung über einzelne Kandidierende (Einzelne oder Teams) verzichten wir im Sinne der Gleichbehandlung, bis die Bewerbungsphase abgeschlossen ist.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo