Walter Momper: „Die Menschen aus Ost und West haben zu wenig miteinander gesprochen.“
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Welche Bilder haben Sie im Kopf, wenn Sie an den 3. Oktober 1990 denken?
Da habe ich als erstes die Zeremonie vor dem Reichstag im Sinn, bei der sich Helmut Kohl und sein Gefolge nach vorne gedrängelt haben, sodass wir gar nicht mehr auf die Bilder kamen. Trotzdem war die ganze Zeremonie sehr emotional. Das Feuerwerk, das Hissen der gesamtdeutschen Fahne – all das hat sich tief eingebrannt und ich denke sehr gerne daran zurück.
In Ihrem Buch „Berlin, nun freue dich!“ schreiben Sie, die Einheitsfeier „sollte fröhlich sein, aber nicht triumphierend, stolz, aber nicht arrogant, deutsch, aber nicht national“. Warum war das so wichtig?
Wir wollten damals wie heute nicht, dass das wiedervereinigte Deutschland so wird wie es mal war: national auftrumpfend und sich über andere stellend. Wir wollten – bei aller Größe und Bedeutung, die Deutschland hat – ein bescheidenes Land in Europa sein und auch als solches wahrgenommen werden. Uns war klar, dass die Ereignisse um den 3. Oktober zum Teil argwöhnisch beobachtet wurden, im In- wie im Ausland. Da wollten wir ein ordentliches Bild abgeben und kein auftrumpfendes. Ich denke, das ist uns gelungen.
Wie argwöhnisch haben diejenigen damals nach Berlin geblickt, die lieber Bonn als Hauptstadt behalten hätten?
Diese Frage ging in den allgemeinen Emotionen rund um den 3. Oktober etwas unter. An Bonn als Hauptstadt hingen ja vor allem die Jungen, die ein geeintes Deutschland nicht erlebt hatten und auch keinen richtigen Bezug zur DDR und den dort lebenden Menschen hatten. In Berlin spielte das Thema keine so große Rolle, vielleicht auch, weil West-Berlin näher an der DDR lag als der Rest Westdeutschlands.
Zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 lag fast ein ganzes Jahr, in dem vieles zu organisieren zwar – besonders zwischen Ost- und West-Berlin. Wie lief die Zusammenarbeit ab?
Das hat wirklich sehr gut funktioniert. Das meiste lief über die Arbeit der gemeinsamen Landesregierung von Magistrat und Senat. Da hatten wir so viel zu tun, dass wir kaum mal Luft schnappen konnten. Aber es hat auch Spaß gemacht und die Ergebnisse haben gestimmt. Die Mühen der Ebene kamen eigentlich erst nach dem 3. Oktober als die Probleme immer deutlicher wurden, der Niedergang der DDR-Industrie etwa und der damit verbundene Verlust von Arbeitsplätzen. Natürlich wurden auch Fehler gemacht, aber das meiste von dem, was passiert ist, konnte niemand vorhersagen oder auch nur ahnen. Am 3. Oktober war die Freude aber noch ungebrochen.
Nicht nur zwei Länder und zwei Städte wuchsen 1990 zusammen, sondern auch zwei Parteien: Am 15. September vereinigten sich Ost- und West-SPD in Berlin, Sie wurden der gemeinsame Vorsitzende. Wie sind Sie damals aufeinander zugegangen?
Zu Anfang überwogen auf beiden Seiten Offenheit und Neugier. Später kamen auch einige Vorbehalte dazu. Deutlich erleichtert hat das Zusammenwachsen, dass viele Abteilungen (so heißen in Berlin die SPD-Ortsvereine Anm.d.Red.) und alle Kreisverbände Partnerorganisationen im Ostteil der Stadt oder sogar in Brandenburg hatten. Davon hat aus meiner Sicht die Ost-SPD enorm profitiert, weil die meisten nahezu keine Erfahrung hatten im politischen Geschäft. Im Gegenzug konnten die Genossen im Westen viel über die Sichtweisen in der nun ehemaligen DDR lernen. Das hat Spaß gemacht und die SPD auf der persönlichen Ebene sehr zusammengebracht. Wir waren ja alle Sozialdemokraten. Das hat verbunden. Manche Verbindungen aus dieser Zeit gibt es heute noch.
Was hat Sie an den Sozialdemokrat*innen aus der ehemaligen DDR beeindruckt?
Als erstes natürlich ihr Mut, dass sie gegen das bestehende System aufbegehrt hatten. Und dann, dass sie ohne jede Erfahrung Hals über Kopf in die Politik gestürzt sind. Bei vielen war das ja überhaupt nicht der Plan gewesen. Die meisten sind aus ihren bürgerlichen Berufen in der DDR in die hauptamtliche Politik im vereinigten Deutschland gesprungen. Das war schon bewundernswert und eine Leistung, die viel Selbstbewusstsein erforderte.
Wie wurde der Zusammenschluss der Ost- und der West-SPD vorbereitet?
Partnerschaftlich. Es war ja klar, dass die neue Gesamt-Berliner Partei gut zwischen Ost und West austariert sein musste. Ich denke, im Großen und Ganzen ist uns das damals gut gelungen, wenn auch manche Verdrückungen, die es heute gibt, ihren Ursprung darin haben, dass viele Wessis damals sehr selbst- und machtbewusst aufgetreten sind. Da hätte man damals mehr Rücksicht nehmen und besser zuhören müssen. Das gilt aber nicht nur für Berlin.
In Ihrem Buch, das 2014 erschienen ist, kritisieren Sie, „dass Ossis und Wessis noch immer zu wenig voneinander wissen“. Hat sich das inzwischen geändert?
Es wird zum Glück von Jahr zu Jahr weniger, aber vor zehn Jahren war das durchaus noch ein Problem. Die Menschen aus Ost und West haben einfach zu wenig miteinander gesprochen, wohl auch, weil sie nicht so großes Interesse aneinander hatten. Ich war viele Jahre Mitglied in einem Filmarbeitskreis Ost-West. Da haben wir uns Spielfilme aus der DDR angesehen und uns den dort dargestellten Alltag hinterher erklären lassen. So wollten wir etwas über die Lebenswirklichkeit der DDR-Menschen erfahren. Da habe ich einiges gelernt.
Die SPD ist im Ostteil der Stadt wie auch im Osten Deutschlands deutlich schwächer als im Westen. Wie lässt sich das ändern?
Das geht nur durch starkes, konkretes Arbeiten. Im Westen gab und gibt es ja eine große Gruppe zahlender Mitglieder, die sich durchaus zur Sozialdemokratie bekennen, aber nie aktiv werden würden. Wenn sich dort zehn Prozent der Mitglieder engagieren, sind es aber natürlich immer noch deutlich mehr als wenn das zehn oder sogar zwanzig Prozent im Osten tun. Leider sind die Zeiten um Mitglieder zu werben und zu aktivieren ja generell im Moment nicht die besten. Mit den jungen Menschen, die mehr und mehr in der Berliner SPD Verantwortung übernehmen, bin ich aber ganz zufrieden.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.