Parteileben

Vorbild für die Gegenwart

von Moritz Felgner · 6. Juni 2009
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Die Ankündigung des Verlags scheint etwas überzogen: Die Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik werde mit diesem Buch neu geschrieben. Damit hat sich der renommierte Bielefelder Wirtschaftshistoriker und Ökonom Werner Abelshauser nach seinem beachteten Buch über die BASF viel vorgenommen. Immerhin gilt seine "Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945" als Standardwerk.

Das Quellenproblem

Die Quellenlage für dieses Buch ist leider einseitig. Die Grundlage bildet der umfangreiche "Vorlass" Hans Matthöfers im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Abelshauser gibt aber auch unumwunden zu, dass weder private Briefe noch ein klassisches Tagebuch oder andere authentische private Texte zur Verfügung standen. Er begründet diese Quellenarmut mit der proletarischen Herkunft und mit dem Habitus des politischen Einzelkämpfers, dem es fern lag, die innersten Gedanken schriftlich zu reflektieren. In Veröffentlichungen äußerte sich Matthöfer dafür umso häufiger. Das umfangreiche Verzeichnis seiner Schriften im Anhang bezeugt dies eindrucksvoll. Darüber hinaus hat der Autor Matthöfers eigene und fremde dienstliche Berichte und Kommentare sowie Dokumente aus Ministerien, SPD-Vorstand und IG-Metall ausgewertet.

Abelshauser wählte für sein Werk einen biographischen Ansatz. Obwohl er durchaus die Gefahr sah, der "Heldenverehrung" anheim zu fallen, wählte er diese Mikroperspektive, um am Beispiel eines "strategischen" Akteurs Innovationen im Denken und Handeln einer Epoche nachweisen zu können, zumindest jedoch um Kontinuität und Wandel eines homo politicus nachzuweisen.

"Kämpfer ohne Pathos"

Werner Abelshauser beleuchtet in seinem Buch die wichtigsten Entwicklungsstränge der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Geschichte der Bundesrepublik nach dem Ende des "Wirtschaftswunders". Hans Matthöfer war für ihn eine wirtschaftspolitische Schlüsselfigur der alten Bundesrepublik. Der 1925 in Bochum geborene katholische Arbeitersohn war unter anderem Gewerkschafter, Politiker und Unternehmer. Er prägte mit Geradlinigkeit und hoher fachlicher Kompetenz die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik nach der Ära Adenauer. Helmut Schmidt nannte Matthöfer einen "Kämpfer ohne Pathos". Im katholischen Milieu sozialisiert und als Heranwachsender der Regimejugend verbunden, hatte Matthöfer den militärischen und staatlichen Zusammenbruch 1945 als Trauma erlebt. Er musste sich danach in einer chaotischen Lebenswirklichkeit behaupten und sich vollkommen neu orientieren.

Diese Orientierung fand Matthöfer in der SPD und bei der IG Metall. Sein erster Förderer, der damalige IG Metall-Chef Otto Brenner, lenkte Matthöfers Blick auf neue Themen: die technologische und die soziale Umwälzung. Erschüttert wurde sein Weltbild in den Jahren 1956/57, als er, früher als viele andere, erkannte, dass es eine "Zweite Industrielle Revolution" nicht geben würde. Hier und später zeigte sich seine Fähigkeit, den Kurs zu wechseln, wenn es die Realität erforderte. Schnell geriet Matthöfer dabei jedoch in das Schussfeld der Presse ("Vom linken Flügelstürmer zum halbrechten Pragmatiker").

Gegen erstarrte Denkmuster

Die sozialdemokratische Regierungszeit von 1966 bis 1982 wurde bestimmt von einem tiefgreifenden Strukturwandel, der nur durch eine Modernisierung der westdeutschen Industriegesellschaft zu bewältigen war. Fragen nach der Rolle des Staates, der Mitbestimmung und Vollbeschäftigung mussten neu definiert werden. Als Minister in der Regierung Schmidt brach Matthöfer auf vielen Gebieten mit vertrauten Positionen. In der Entwicklungspolitik stellte Matthöfer die bisherige Transferstrategie infrage. Die "Marshallpläne" für Afrika hatten in den 1960er Jahren den Teufelskreis der Armut nicht durchbrechen können. Als Alternative sah Matthöfer ein Entwicklungsmodell, das auf die eigene gesellschaftliche Kraftentfaltung in der Dritten Welt vertraute. Entwicklungspolitik sollte die Bildung demokratisch legitimierter Institutionen unterstützen.

Matthöfer suchte ab 1974 als Bundesforschungsminister und ab 1978 als Bundesfinanzminister entschlossen nach innovativen Lösungen, mit dem Ziel, erstarrte Denkmuster zu überwinden. Dazu gehörte sein "Ölpapier", das er Ende 1981 als Antwort auf die zweite Ölkrise entwarf. Er wollte dem Erdölkartell ein strukturpolitisches Konzept entgegensetzen und damit die Handlungsspielräume der Politik sichern. Der Staat hatte demnach die Pflicht zur Intervention, wenn der Markt versagte. Doch ohne Hausmacht und gegen eine Koalition aus Marktideologen, Populisten und Boulevard-Presse konnte sich Matthöfer nicht durchsetzen. Eine Entfremdung zum linken Spektrum der SPD und zur IG Metall zeichnete sich bereits vorher ab, als er sich vom überzeugten Keynesianer zum konsequenten Vertreter einer auf Stabilität ausgerichteten Haushaltspolitik wandelte. Hierbei hatte Matthöfer schließlich nur noch den Kanzler als Verbündeten. Antizyklische Steuerung mit Hilfe von deficit spending durfte seiner Meinung nach nur noch als ultima ratio bei der Behebung von Wirtschaftskatastrophen angewendet werden.

Werner Abelshauser rückt mit seiner sehr informativen und detailreichen Biographie über Hans Matthöfer nicht nur eine außergewöhnliche Persönlichkeit in den Blickpunkt, sondern beleuchtet insgesamt ein wirtschaftshistorisches Kapitel der Bundesrepublik, bei dessen Betrachtung man nicht umhin kommt, Parallelen zur heutigen Wirtschaftskrise zu ziehen. Ob Vorbild oder nicht: Entschlossenheit und Pragmatismus sind vielleicht nicht die schlechtesten Eigenschaften, die einen Politiker auch in der derzeitigen Wirtschaftslage auszeichnen sollten.

Moritz Felgner

Werner Abelshauser: Nach dem Wirtschaftswunder. Der Gewerkschafter, Politiker und Unternehmer Hans Matthöfer, Dietz-Verlag, Bonn 2009, 800 Seiten, 58,00 Euro,
ISBN 978-3-8012-4171-1

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