Mancher mag denken, was schert uns Europa? Uns geht’s doch gut. Das Leben geht seinen Gang, die deutsche Wirtschaft boomt, die Arbeitslosigkeit sinkt. Aber all das wäre nicht möglich ohne Europa.
Helmut Schmidt hat das in seiner Rede zu Beginn des Parteitags den Genossen ins Gewissen geschrieben, der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier bekräftigte es in seiner Begründung des Leitantrags „Neuer Fortschritt für ein starkes Europa“. Steinmeier: „Europa ist ein Geschenk, von dem wir täglich zehren.“ Europa, das sei die Antwort gewesen auf die 60 Millionen Tote und das Grauen des Zweiten Weltkriegs.
Aber Steinmeier machte auch deutlich, dass diese Erzählung nicht mehr ausreicht. Er verwies auf die Rede des amerikanischen Präsidenten Barack Obama in Canberra/Australien. „Die USA sind eine Pazifik-Macht, und wir sind da, um zu bleiben“, habe Obama gesagt. Daraus ergebe sich: Europa steht nicht mehr im Zentrum des amerikanischen Interesses. Steinmeier: „Wir werden nicht unwichtig, aber weniger bedeutend sein.“ Wenn Europa dennoch Einfluss nehmen wolle auf Entscheidungen in Sachen Klima, Handel und Finanzen, dann müsse Europa mit einer Stimme sprechen. Steinmeier: „27 europäische Einzelmeinungen werden im großen Weltrauschen untergehen.“ Deshalb will die SPD die europäische Einigung vorantreiben. Nur so seien Gier und Spekulation zu stoppen.
Heuchelei der Union
Scharf attackierte Steinmeier die Regierung Merkel. Den Rest der Welt zum Sparen und Schuldenabbau aufzufordern und die eigene Neuverschuldung zu erhöhen, sei Heuchelei, so Steinmeier. Europa müsse wirtschafts- und finanzpolitisch enger zusammenarbeiten. Aber Angela Merkel bewirke das Gegenteil und bringe mit ihrer Schulmeisterei die wohlmeinenden Nachbarn „auf die Zinne“. Sich in Brüssel als große Europäerin darzustellen und im Sauerland über die faulen Griechen zu schimpfen, das sei „keine Haltung“. Steinmeier: „Ich bin stolz auf meine Partei, dass es solche Töne bei uns nicht gibt.“ Eine Lanze brach Steinmeier für die Europäische Zentralbank (EZB). „Sie war es, die die Kernschmelze der europäischen Währung verhindert hat.“
Die Antwort der SPD
In sieben Kernpunkten beschrieb Steinmeier die sozialdemokratische Antwort auf die Krise in Europa:
1. Gemeinsam müssten die europäischen Staaten mit allen Mitteln der Spekulation entgegen treten und den Rettungsschirm stärken.
2. Europa brauche ein Aufbauprogramm, um der drohenden Rezession entgegen zu wirken. Dazu gehöre auch eine „Neugeburt der europäischen Industriepolitik“.
3. Es müsse große gemeinsame Anstrengungen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit geben. Wenn in Spanien 40 Prozent und in Süditalien 50 Prozent der Jugendlichen arbeitslos seien, sei das „eine Schande für Europa“.
4. Um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu bezahlen, forderte Steinmeier eine Besteuerung der Finanzmärkte.
5. Herzstück des SPD-Konzepts sei ein vernünftiger Umgang mit den Altschulden, weil die Gefahr bestehe, dass die Schulden die in Schieflage geratenen Staaten erdrosseln. Es solle ein europäischer Schuldentilgungsfonds eingerichtet werden, der in 20 bis 25 Jahren getilgt werden könne. Darin sollen die aufgelaufenen Schulden, die über 60 Prozent des BIP liegen, gesammelt werden, mit gemeinschaftlicher Haftung und verbindlicher Tilgung.
6. Außerdem solle eine Kerngruppe in Europa bei der Steuer- und Finanzpolitik vorangehen dürfen. Steinmeier: „Europa wird scheitern, wenn immer der Langsamste das Tempo vorgibt.“
7. Was vor Ort geregelt werden könne, solle wieder vor Ort geregelt werden. „Der Leitantrag ist unser Kompass“, bekräftigte Martin Schulz. Europa schaue auf Deutschland, so der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament. Europa, das sei die Idee der parlamentarisch verfassten Demokratie. „Diese Werte müssen wir verteidigen“, so Schulz. Und dabei komme es vor allem auf die Sozialdemokratie an. Die Stabilität Europas als Sozialmodell hänge von der Stärke Deutschlands ab und die Stärke des Sozialmodells von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, sagte Schulz unter dem großen Applaus der Delegierten. Der Leitantrag wurde am Sonntag nachmittag „mit klarer mehrheit“ beschlossen.