Parteileben

Thomas Oppermann: Immer bei uns

Die Zeit stand still heute vor einem Jahr. Thomas Oppermann ist gestorben – eine Nachricht so schockierend, dass viele sie nicht glauben wollten. Erinnerung an den kraftvollen Demokraten, stürmischen Fußballer und leidenschaftlichen Parlamentarier
von Steffen Rülke · 24. Oktober 2021
Die Nachricht war ein Schock: Vor einem Jahr starb plötzlich und unerwartet Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann.
Die Nachricht war ein Schock: Vor einem Jahr starb plötzlich und unerwartet Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann.

Thomas Oppermann hat sich über alle parteipolitischen Grenzen hinweg höchsten Respekt erworben. Obwohl er stets mit aller Entschlossenheit und Härte die „Abteilung Attacke“ angeführt hat. Woher kommt die enorme Wertschätzung weit über alle Lager hinweg? Ein Versuch, diese Frage zu klären, kann für mich nur mit einem Tag im November 2011 beginnen. Gerade wurde die rechtsextreme Mördertruppe NSU enttarnt. Das Land ist erstarrt in Schock und Sprachlosigkeit. Niemandem war es bis dahin gelungen, in Worte zu fassen, was passiert ist. Und dann sagt Thomas Oppermann den einzig richtigen Satz: „Ich schäme mich.“ Er schämte sich dafür, dass der deutsche Staat, die Opfer der Neonazis nicht schützen konnte. Er übernahm Verantwortung, wo ihn persönlich gar keine Schuld traf. Es war ein Bundespräsidenten-Satz, obwohl er damals „nur“ Geschäftsführer seiner Fraktion war. Dieser Moment verdeutlicht, mit welcher Kraft und Klarheit Thomas Oppermann für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eintrat.

Intellektuelle Schärfe und beste Unterhaltung

Sein Pressesprecher zu sein war nicht schwer. Thomas Oppermann war klug, pragmatisch, präzise, mit feinem Humor. Seine Pressefrühstücke waren bei den Berliner Journalistinnen und Journalisten legendär. Es gab – neben Rührei mit Krabben – vor allem intellektuelle Schärfe und beste Unterhaltung. Unnachahmlich schlagfertig auch seine Talkshow-Auftritte. Thomas Oppermann war höchst professionell und versiert im Spiel mit den Kameras. Jede Vorbereitung für ein Interview toppte er selbst mit einem Satz, der so prägnant war, dass er später oft zur Überschrift wurde. Und: Er hat sich aufgeopfert für seine SPD. Thomas Oppermann hat sich immer fit gehalten. Man hat es ihm nicht angesehen, dass er an seine Grenzen gegangen ist. Er hat keinen Termin, keine Möglichkeit ausgelassen, um für die SPD einen Punkt zu machen – egal wo, egal wann.

Wenn allerdings ein Spiel des FC Bundestag anstand, dann ließ auch er mal alles stehen und liegen. Auf dem Fußballplatz offenbart sich oft der wahre Charakter eines Menschen. So war das auch bei Thomas Oppermann. Sobald der Ball im Spiel war, war seine gesamte Leidenschaft geweckt. Er war Stratege, Teamplayer und Energiebündel – immer anspielbar und den Ball fordernd. Thomas war auch hier angriffslustig und berüchtigt für seinen Drang zum Tor. Wie seine Pressesprecher mussten ihn auch seine Mitspieler manchmal bremsen. Ein Mittelstürmer, der gegen sich und andere durchaus eine gewisse Härte an den Tag legen konnte. Wie bei seinen Attacken auf politische Konkurrenten war er auch auf dem Platz nicht zimperlich. Sein Schuss war wie seine Sätze: präzise und hart. Aber auch auf dem grünen Rasen verkörperte er wie in der Politik die großen Tugenden des englischen Fußballs: Fairness und Respekt.

Vom Sitzenbleiber bis zum Spitzenpolitiker

Auf seine Art hat Thomas Oppermann die SPD als Volkspartei verkörpert: Er war begeistert vom Fußball und Fankurve im Stadion wie von Kultur und Lesung im Theater. Von seiner Lieblings-Currywurst bis zu seiner Bauhaus-Leidenschaft. Vom intellektuellen Viel-Leser bis zum Malocher auf dem Bau, wo er sein Studium finanzierte. Vom „notorischen Schulversager und Sitzenbleiber“ bis zum Spitzenpolitiker. Scheitern und Niederlagen, Aufstieg und Fortschritt – er kannte viele Seiten des Lebens. Insofern ist es auch konsequent, dass er nie ideologisch argumentierte, sondern immer kritisch rational. Thomas Oppermann war Jurist und Verwaltungsrichter. Sein intellektueller Horizont reichte allerdings weit über formale Gesetzestexte und reine Urteilsexegesen hinaus.

Leidenschaftlich hat er sich für die Aussöhnung mit Israel eingesetzt. Engagiert hat er die Deutsch-Amerikanische Freundschaft gefördert. Begeistert war der ehemalige Germanistik-Student vom Mut und der aufklärerischen Kraft der Göttinger Sieben. So zitierte er oft Georg Christoph Lichtenberg: „Ich kann nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird. Aber so viel kann ich sagen, es muss anders werden, wenn es gut werden soll.“ Hier liegen die Wurzeln seiner Haltung. Thomas Oppermann wollte reformieren und gestalten. Als niedersächsischer Wissenschaftsminister hat er das eindrücklich bewiesen: Er war mit jeder Pore Regierungspolitiker. Und ja, es wird sein unerfüllter Traum bleiben, nie Bundesminister geworden zu sein. Er hätte es nicht nur verdient gehabt, er hätte es ausgezeichnet gemacht.

Weniger Rituale, mehr lebendige Demokratie

Vollblut-Parlamentarier ist Thomas Oppermann über drei Jahrzehnte geblieben – nicht nur im Großen als Fraktionsvorsitzender, sondern auch im vermeintlich Kleinen. Über 30 Jahre war er stolzer Unterbezirksvorsitzender in Göttingen. Die größte Ehre war es für ihn, die Interessen der Menschen aus seiner Heimat zu vertreten und seinen Wahlkreis direkt zu gewinnen. Dreimal als Landtagsabgeordneter und sogar viermal als Bundestagsabgeordneter ist ihm das gelungen. Selten war seine Freude größer als in den Momenten, als er die Wahlergebnisse aus Göttingen erfuhr.

Fasziniert und geprägt haben ihn die Debatten im britischen Unterhaus. Herzenssache war für ihn, die Sitzungen im Deutschen Bundestag lebendiger zu gestalten. „Wir brauchen weniger Rituale und mehr lebendige Demokratie“, hat Thomas Oppermann stets gefordert. Dass sich Olaf Scholz, wenn er Bundeskanzler ist, regelmäßig den Fragen der Abgeordneten stellen muss, geht maßgeblich auf Thomas Oppermann zurück. Den Provokationen der radikalen Fraktion extrem rechtsaußen, deren Anwesenheit im Deutschen Bundestag ihn zutiefst schmerzte, trat er mit der für einen Vizepräsidenten gebotenen Sachlichkeit und mit der ihm eigenen Klarheit entgegen – getreu seinem Leitsatz: „Die wehrhafte Demokratie muss den Feinden der Demokratie die Grenzen aufzeigen.“ Mit feiner rhetorischer Klinge wahrte er die Würde des Parlaments. Dem waren die Schreihälse und Provokateure nie gewachsen.

Ohne Thomas Oppermann stünde die SPD nicht da, wo sie steht

Thomas Oppermann fehlt, schmerzlich. Oft habe ich mich im vergangenen Jahr gefragt: Was hätte Thomas jetzt zu dieser politischen Debatte gesagt? Dann habe ich mir seine einordnende Haltung und Stimme herbeigesehnt. Manchmal habe ich eine gewisse Vorstellung davon, was er vielleicht gesagt hätte. Aber genau wissen kann das natürlich niemand. Nur bei einer Sache, da bin ich mir absolut sicher: Thomas Oppermann hätte sich in diesen Tagen wahnsinnig gefreut, dass seine SPD die größte Fraktion im neuen Bundestag stellt. Er hätte sein schelmisches Lausbubengesicht aufgesetzt und gelächelt. Die Freude über den Wahlsieg und die absehbare Rückkehr ins Kanzleramt können wir mit ihm teilen. Er hat seinen Anteil daran, dafür hat er unermüdlich gekämpft. „Die SPD darf die Macht nicht verachten“, war einer seiner Sätze, um die Partei auf Kurs zu halten – selbst in Zeiten als die wenigsten von uns an Regierungsmehrheiten geglaubt haben. Ohne Thomas Oppermann stünde die SPD nicht da, wo sie heute ist.

Es war mir eine Ehre, für Thomas arbeiten zu dürfen. Er starb viel zu früh, hinterlässt viel zu junge Kinder – und Trauer und Tränen. Der Schock über den Verlust sitzt immer noch tief – auch heute, ein Jahr danach. Ich werde Thomas Oppermann nie vergessen. Seine Haltung wird uns immer Richtschnur bleiben. Er wird immer bei uns sein.

Autor*in
Steffen Rülke

war Pressesprecher von Thomas Oppermann in der SPD Bundestagsfraktion. Danach leitete er die Kommunikationsstäbe im BMJV und AA. Heute ist er Leiter der Unterabteilung für Digitale Verbraucherpolitik im BMJV.

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