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SPD-Klimapolitik: „Es kann nicht allein um Verzicht gehen.“

Klimapolitik könnte zum entscheidenden Thema der Bundestagswahl werden. Das Wahlprogramm der SPD zeigt wichtige Punkte auf. Ein Gespräch zwischen Juso-Chefin Jessica Rosenthal, SPD-Umweltpolitiker Matthias Miersch und NaturFreunde-Chef Michael Müller
von Kai Doering · 4. Mai 2021
Ein Gesellschaftsvertrag für den Klimaschutz? Michael Müller, Matthias Miersch und Jessica Rosenthal im digitalen vorwärts-Gespräch
Ein Gesellschaftsvertrag für den Klimaschutz? Michael Müller, Matthias Miersch und Jessica Rosenthal im digitalen vorwärts-Gespräch

Laut Klimaschutzbericht sind die CO2-Emissionen 2020 um knapp neun Prozent im Vergleich zum Vorjahr ­gesunken. War das Corona-Jahr auch ein Klimaschutz-Jahr?

Matthias Miersch: Die Corona-Pandemie hat diese an sich positive Bilanz zum Teil verfälscht, vor allem, was den Mobilitätssektor angeht. Das trübt die Freude über das Erreichen der Klimaziele ein bisschen. Dass es aber überhaupt eine solche Bilanz gibt, ist dem Klimaschutzgesetz zu verdanken, das der Bundestag nach einem mehr als zehnjährigen Kampf auf den Weg gebracht hat. Es ist eine der größten Leistungen der SPD in dieser großen Koalition. Das aktuelle Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat diesem Gesetz Rückenwind gegeben. Denn es hat den von uns durchgesetzten verbindlichen Regelungsmechanismus bestätigt und zudem die Regelung der Treibhausgasreduktion auch nach 2030 gefordert, die die Union abgelehnt hat. Wir sehen daran, wie sich die CO2-Emissionen in den einzelnen Fachbereichen der Ministerien entwickeln. Im Energiesektor zeigen sich erste positive Effekte durch den begonnen Kohleausstieg. In den Bereichen Gebäude und Verkehr gibt es dagegen noch großen Nachholbedarf.

Michael Müller: Die Transparenz im Klimaschutzgesetz ist ein wichtiger Punkt. Ich bemerke jedoch, dass sich die Klimadebatte auf einzelne Positionen verengt. Wir brauchen eine andere Richtung: Klimapolitik muss Gesellschaftspolitik werden. Klimaschutz erfordert den Umbau von Wirtschaft und Lebensstilen und hat viel mit der Idee eines neuen Fortschritts zu tun. Deshalb muss eine umfassende Perspektive entwickelt werden, gerade in den Corona-Zeiten. Die Klimafrage würde zu neuen sozialen Spaltungen führen, wenn sie in der neoliberalen Ideologie bleibt, nur auf den technologischen Pfad setzt oder Verzicht predigt. Deshalb teile ich den Begriff „klimaneutral“ nicht, den auch die Befürworter der Atomenergie verwenden. Er kann zu einem Ablasshandel im globalen Süden werden. Es geht nicht um Kompensation, sondern um den schnellen Ausstieg auf dem ­fossilen Zeitalter.

Hat die Corona-Krise den Blick der Generation „Fridays for Future“ auf die Klimakrise verändert?

Jessica Rosenthal: Ich tue mich etwas schwer mit dem Begriff „Fridays-for-­Future“-Generation, aber es ist klar, dass junge Menschen die Klimafrage nach wie vor ganz besonders bewegt. Wir wissen sehr genau, dass eine gute Zukunft für uns und unsere Kinder davon abhängt, dass jetzt die richtigen Entscheidungen getroffen werden, und zwar schnell. Die SPD muss deutlich machen, dass wir nicht von Krise zu Krise schlittern wollen, sondern wir grundsätzliche Veränderungen brauchen, um in einer solidarischen Gesellschaft die großen Herausforderungen zu bewältigen. Die Corona-Krise bietet da viele Möglichkeiten, Lehren für den Umgang mit der ­Klima-Krise zu ziehen.

Welche sind das?

Jessica Rosenthal: Wir müssen massiv umsteuern und das Gemeinwohl an die erste Stelle setzen. Es geht nicht darum, Defizite zu beschreiben, sondern Chancen. Die SPD muss klar machen, dass sie die Partei ist, die den Wandel gestalten will und kann. Diesen Zukunftsoptimismus müssen wir ausstrahlen und in konkrete Politik übersetzen. Mit massiven Investitionen in die sozial-ökologische Transformation werden wir auch junge Menschen von uns überzeugen.

Matthias Miersch: Die Corona-Krise zeigt, dass unsere Antwort auch auf den Klimawandel ein starker, handlungsfähiger Staat sein muss. Regionen, die vom Strukturwandel durch den Kohleausstieg betroffen sind, müssen dabei unterstützt werden, Neues zu beginnen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, deren Arbeitsplätze wegfallen, müssen um­geschult und weiterqualifiziert werden. Eine zweite Lehre aus Corona ist, dass es in einem föderalen Staat wie Deutschland einen abgestimmten Zukunftspakt zwischen Bund und Ländern geben muss. Beim Ausbau der Erneuerbaren Energien macht zurzeit jedes Bundesland seine eigene Politik. Wir haben keine aufeinander abgestimmten Ziele. Das bremst die Energiewende aus.

Jessica Rosenthal: Die Kohlefrage zeigt, was der Staat bei der Transformation leisten kann und muss. Gleichzeitig werden aber auch die Schwächen deutlich. In vielem ist der Staat noch viel zu reaktiv und gestaltet zu wenig. Da verstehe ich auch die Wut gerade junger Menschen, dass zu wenig getan wurde und wird. Und ich verstehe auch den Azubi in der Autoindustrie, der erwartet, dass sein Arbeitsplatz in die Zukunft transformiert wird. Gute Klimapolitik ist am Ende auch Umverteilungspolitik. Deshalb müssen wir die Industrie weiterentwickeln, etwa in Sachen Kreislaufwirtschaft. Unser Anspruch muss sein, ein erfolgreiches, modernes, klimaneutrales Industrieland zu sein. Die SPD hat dabei eine besondere Verantwortung, die sie in der aktuellen Regierung noch nicht ausreichend wahrnehmen konnte.

Matthias Miersch: Ich kämpfe seit 16 Jahren im Bundestag dafür, dass die Klimafrage auch sozial adäquat beantwortet wird. Im Moment ist im Parlament die Mehrheit gegen eine progressive Klimapolitik. Trotzdem ist es der SPD gelungen, dafür zu sorgen, dass Deutschland als erstes hoch industrialisiertes Land erst aus der Atom- und nun auch aus der Kohle-Energie aussteigt. Das ist eine Riesenleistung! Die nächste Herkulesaufgabe steht bei der Transformation der Automobilindustrie an. Unser Zukunftsprogramm, das wir gerade auf den Weg gebracht haben, enthält hier aus meiner Sicht sehr gute Punkte.

Um die Transformation zu gestalten, schlagen Sie einen neuen Gesellschaftsvertrag vor, Michael Müller. Was soll der bewirken?

Michael Müller: Die Transformation findet heute unter der Regie der Märkte statt. Aber die Politik muss die Transformation sozial-ökologisch gestalten. Der Gesellschaftsvertrag betrifft vier Fragen: Erstens die Ökologie in die wirtschaftliche Entwicklung integrieren. Es kann nicht allein um Verzicht oder Bepreisung gehen. Zweitens Kreislaufsysteme schaffen, vor allem regionale. Drittens Dematerialisierung. Der Ressourcenverbrauch ist heute etwa 30 Mal höher als zu Beginn der industriellen Revolution, die Eingriffe in die Öko-Systeme sogar hundertmal höher. Das stößt an ökologische Grenzen. Und viertens mehr Demokratie. Die SPD muss zur Partei der sozial-ökologischen Emanzipation werden.

Jessica Rosenthal: Die SPD ist da an vielen Stellen bereits auf dem richtigen Weg, auch wenn mir vieles noch nicht weit genug geht. Gut finde ich, dass wir im Zukunftsprogramm deutlich machen, dass Wohlstand künftig nicht mehr allein am Bruttoinlandsprodukt gemessen werden soll, sondern dass ökologische Faktoren eine viel größere Rolle spielen sollen. Auch das klare Bekenntnis zur Kreislaufwirtschaft ist aus meiner Sicht sehr wichtig.

Michael Müller, Sie raten der SPD sogar, im beginnenden Bundestagswahlkampf einen solchen Vertrag mit gesellschaftlichen Gruppen zu unterzeichnen. Was soll das bewirken?

Michael Müller: Die Schlüsselfrage für die Bundestagswahl wird sein, ob die SPD am Ende zu Recht vor den Grünen liegt. Dafür muss sie sich offensiv mit Positionen auseinandersetzen, die viel zu kurz greifen. Es wird behauptet, die SPD habe jetzt auch den Klimaschutz entdeckt. Das ist Unsinn. Umwelt- und Klimaschutz gehören seit fast vier Jahrzehnten zur SPD, aber er wurde nicht mit Nachdruck vertreten, die „Ökos“ wurden oft allein gelassen. Der Gesellschaftsvertrag ist ein neuer Anlauf. Willy Brandt hat in den 70er Jahren viele Prominente eingeladen, um eine Verpflichtung der Partei für Frieden und Abrüstung zu unterschreiben. So etwas stelle ich mir auch in der Klimapolitik vor. Mit dem Gesellschaftsvertrag macht die SPD der Gesellschaft ein Angebot, das auf der Basis der Solidarität richtige Weichen stellt.

Matthias Miersch: Ich finde diese Idee bestechend. Ein Vertrag hat eine Form von Verbindlichkeit und ist damit vergleichbar mit einem Gesetz. Wenn das Klimaschutzgesetz der verbindliche Rahmen für den deutschen Klimaschutz ist, kann der Gesellschaftsvertrag dieselbe Funktion für die gesellschaftspolitische Entwicklung haben. Bestechend ist er auch deshalb, weil er den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen aus ihrer jeweiligen Perspektive heraus etwas anbieten kann: den Jüngeren ebenso wie den Älteren. Und doch hat der Vertrag etwas, das alle miteinander verbindet. Das überwindet das gruppenisolierte Denken, wie es zurzeit häufig vorherrscht.

Matthias Miersch, Sie sagen, dass es nur ein Bündnis der progressiven ­Parteien schaffen kann, die Herausforderungen des Klimawandels in den Griff zu bekommen. Das sehen die Jusos sicher ähnlich, oder?

Jessica Rosenthal: Wir Jusos sagen ja schon seit langem, dass es Zeit für ein Fortschrittsbündnis ist und das progressivste Bündnis ist natürlich Rot-Rot-Grün. Ob es dazu kommt, liegt am Ende aber nicht nur an der SPD. Die Grünen blinken an vielen Stellen Richtung CDU, wenn sie nicht sogar schon auf der Abbiegespur sind. Und auch die Linkspartei bewegt sich nicht gerade auf die SPD zu. Die SPD muss im Wahlkampf ganz deutlich machen, dass die Union keine Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft hat. Gerade für junge Menschen hat diese nichts zu bieten.

Matthias Miersch: Mit den Erfahrungen aus den vergangenen dreieinhalb Jahren großer Koalition kann ich das nur bestätigen. CDU und CSU sind inhaltsleer. Gerade in der Klimapolitik hat die Union keine Antworten – im Gegenteil. Es haben Politiker an Schlüsselpositionen gesessen, die jeden Fortschritt verhindert haben. Um wirklich voranzukommen, braucht es ein Bündnis jenseits von CDU und CSU. Und in diesem Bündnis braucht es eine starke SPD, die vor den Grünen liegt.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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