SPD-Chef Gabriel fordert nach Brexit Neustart für Europa
Nach dem Brexit-Schock fordert SPD-Chef Sigmar Gabriel einen „Neustart“ für Europa. Das sagte er auf der in Berlin tagenden SPD-Programmkonferenz Europa. Überschattet wurde die Konferenz vom drohenden Austritt Großbritanniens aus der EU.
Gabriel: Doppelte Staatsbürgerschaft für junge Briten
Gabriel verwies darauf, dass drei Viertel der jungen Briten für den Verbleib in der EU gestimmt hätten. Dies sei „ein gutes Zeichen“. Deswegen dürfe man jetzt auch „nicht einfach politisch die Zugbrücke hochziehen“, so der SPD-Chef. Er schlug vor, jungen Briten in der EU die doppelte Staatsbürgerschaft anzubieten, damit sie EU-Bürger bleiben können. Man wolle „alles dafür tun, damit Großbritannien nicht immer weiter von Europa wegtreibt“.
Zugleich richtete der Vizekanzler eine klare Botschaft an London: „Erst feilschen, dann versagen, jetzt klammern“ – diesem Motto werde Europa nicht nachgeben, „das werden wir nicht machen“. Denn das wäre „eine Einladung an alle nationale Egoisten“. Jetzt sei Klarheit und Eindeutigkeit gefordert. „Wir wollen keine Nachahmer auffordern, Europa noch mehr in Schwierigkeiten zu bringen“, so Gabriel.
„Europa ist der beste Platz der Welt“
Der SPD-Vorsitzende bemühte sich um Optimismus. Frankreich habe 1966 mitten im Kalten Krieg die militärischen Strukturen der Nato verlassen, was damals Schockwellen durch Westeuropa geschickt habe. Heute seien die Bindungen enger als je zuvor. „Historisch ist es eine Episode, keine Epoche.“ Wenn es gelinge die EU zu modernisieren, werde sie auch wieder für die Briten zum Orientierungspunkt. Wenn die junge Generation in den Ämtern des „Duo infernale“ Cameron und Johnson sei, werde Großbritannien vielleicht wieder in die EU zurückkehren.
Leidenschaftlich warb Gabriel für Europa. „Europa ist der beste Platz der Welt für Freiheit, für Demokratie, für die Chance zu sozialem Fortschritt.“ In keiner Region der Welt könne man so frei leben. „Dieses große Zivilisationsprojekt wollen wir unseren Kindern vererben.“ Das werde aber nur gelingen wenn Europa seine drei Versprechen auf Demokratie, Frieden und Wohlstand für alle auch einhalte.
Gefährliche Spaltung in Europa
Gabriel diagnostizierte eine „gefährliche Spaltung in Europa“ zwischen Gewinnern und Verlierern. Wer unter der sozialen Krise leide, habe Wut auf die Länder im Norden. Wem es gut gehe, bei dem steige die Wut über die südlichen Schuldenstaaten. „Wir müssen Europa entgiften“, mahnte Gabriel.
In diesem Zusammenhang kritisierte der SPD-Chef die „dumme Erzählung in Deutschland“, vom „Netto-Zahler“ oder „Lastesel“ in der EU. Das sei nicht einmal die Hälfte der Rechnung. Deutschland bekomme viel mehr zurück, als es einzahle. „Wir sind Netto-Gewinner“, so Gabriel. Seine Partei rief der SPD-Chef auf: „Geht in die Betriebe und sagt: Eure Jobs sind weg, wenn wir aus Europa austreten!“
Gabriel fordert europäisches Investitionsprogramm
Nötig sei jetzt „ein europäisches Investitionsprogramm“. Dies solle eingesetzt werden für ein europäisches Gigabyte-Netz, für transeuropäische Energie- und Verkehrsnetze und für ein wirksames Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit. Europa habe „viel getan für die Finanzmärkte, aber wenig für seine 25 Millionen Arbeitslosen“, kritisierte Gabriel.
Klar grenzte sich der SPD-Chef von Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihrer Forderung nach einer „marktkonformen Demokratie“ in Europa ab: „Wir müssen einen demokratiekonformen Markt schaffen, keine marktkonforme Demokratie.“ Die EU dürfe bei den Märkten nicht länger nur auf den Wettbewerb achten, sie müsse auch für soziale Sicherheit sorgen.
Martin Schulz warnt vor Rechtspopulisten
Der Präsident des Europäischen Parlamentes, Martin Schulz, warnte auf der Programmkonferenz vor den Gefahren des Rechtspopulismus für die Demokratie und für Europa. Die Rechtspopulisten stellten die Würde aller Menschen in Frage, deshalb seien sie „der Hauptgegner“ der SPD. Er sei „stolz darauf“, dass sich die Rechten so sehr auf Bundesjustizminister Heiko Maas eingeschossen hätten, das zeige, „Heiko Maas und die SPD sind auf den richtigen Weg“.
Der Angriff der Rechten auf Europa sei ein Angriff auf die Sozialdemokratie, denn Europa sei eine sozialdemokratische Idee. Die „Dämonen des 20. Jahrhunderts“ Hass, Dummheit und Rassismus seien lebendig. Die EU sei bisher das erfolgreiche Instrument gewesen, diese Dämonen zu bannen. „Zerschlagen wir dieses Instrument, dann kehren die Dämonen zurück“, warnte Schulz.
Steinmeier: Deutschlands schwierige Rolle in der EU
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier berichtete den Konferenzteilnehmern von den aktuellen Sorgen im Kaukasus vor einem Zerfall in Europa. Bei seiner letzten Reise nach Armenien, Aserbaidschan und Georgien habe er erfahren, wie sehr sich diese Staaten Europa „als Gegengewicht gegen andere Kräfte“ – gemeint war Russland – wünschen.
Durch einen Brexit, der ihn „auch überrascht“ habe, sieht Steinmeier die Rolle Deutschlands in der EU „noch schwieriger als in der Vergangenheit“. Die einen wünschten sich eine deutsche Führungsrolle bei der Überwindung der Krise. Die anderen fürchteten sich genau davor und vor einer noch größeren deutschen Dominanz in Europa. „Eine deutsche Führungsrolle wird zwar immer gewünscht, sie würde aber nie akzeptiert werden“, beschrieb der Außenminister das Dilemma. Deutschland werde daher „ganz sensibel“ mit seiner Rolle umgehen, den Partner genau zuhören und dann mit ihnen gemeinsam entscheiden, wie es weiter gehe in Europa.
Zentrale Rolle für Dialog mit Parteimitgliedern
Eine zentrale Rolle spielte auf der Berliner Konferenz der Dialog mit den Parteimitgliedern in mehreren Workshops. Er endete mit klaren Ergebnissen, die am Ende als „Herausforderungen und sozialdemokratische Antworten“ aus den verschiedenen Workshops vorgestellt wurden und in das Wahlprogramm der SPD einfließen sollen.
Bundesumweltministerin Barbara Hendricks berichtete zum Thema „Sozialgerecht und ökonomisch sinnvoll – unser Weg zur Klimaneutralität“. Hendricks betonte, dass es „das klare Signal gebe“, den Emissionshandel und den Umweltschutz auf europäischer Ebene weiter voranzutreiben.
Workshop-Ergebnisse sollen in Wahlprogramm einfließen
Für den Bereich „Fluchtpunkt Europa / Arbeitsmarkt Europa – zwischen humanitärer Verantwortung und Fachkräftesicherung“ berichtete Bundesjustizminister Heiko Maas. Er unterstrich, dass die Forderung bestehe, die Gesetze zu Flucht und Asyl auf europäischer Ebene zu harmonisieren.
Niels Annen, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, brachte aus dem Workshop „Unsere Verantwortung für Europa und die Welt“ die Forderung nach einer langfristigen und präventiven Politik mit, um sich von Anfang an besser mit entstehenden Konflikten auseinandersetzen zu können.